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Eine Zeitzeugin erinnert sichEin Büstenhalter, ein Hut und… ein Gruß vom Führer

Lesezeit 4 Minuten
Mädchen Erika Bellartz mit ihrer Mutter, einer Tante und ihrem Vater.

Mädchen Erika Bellartz mit ihrer Mutter, einer Tante und ihrem Vater.

Refrath – Sie ist 91 und hat ein bemerkenswertes Gedächtnis. An viele Begebenheiten aus ihrer Kindheit und Jugend kann sie sich genau erinnern und detailliert davon erzählen. Und damit lässt Erika Bellartz ein Stück Geschichte lebendig werden, das Leben am Ende der Weimarer Republik und während des Naziregimes.

Dass die Erinnerungen der Refratherin ein Schatz sind, wurde erst spät entdeckt. Bei einem Urlaub, zu dem sich Verwandte und Freunde auf einem einstigen Bauernhof in der Dordogne trafen, kam die alte Dame ins Erzählen. Und fand gebannt lauschende Zuhörer quer durch alle Generationen. Sie baten Erika Bellartz, an mehreren Abenden von ihrer Kindheit und Jugend zu erzählen. Unter den Zuhörern war auch Rolf Bellartz, Sohn der Zeitzeugin und Autor. „Sie hatte immer mal Episoden erzählt“, berichtet er von früheren Eindrücken. Erst in der Dordogne lernte er die komplette Geschichte seiner Mutter kennen. In ihren Schilderungen kommt einiges an dramatischem Geschehen zusammen: Aufmärsche und nächtliche Schüsse am Ende der Weimarer Republik, die Deportation jüdischer Nachbarn, von der nur zu sehen ist, wie Möbel und Teile eines zertrümmerten Klaviers aus dem Fenster geworfen werden. Später folgen nächtliche Luftangriffe, bei denen der geliebte Dackel nicht mit in den Luftschutzkeller darf.

Ganz persönlich erlebt das Mädchen Erika eine lebensbedrohliche Wasserpocken-Erkrankung, eine bei Sturm vor ihr umstürzende Straßenlaterne oder auch einen heftigen sexuellen Übergriff, dem sie sich aber entziehen kann. Auch die krasse Ausbeutung des jungen Mädchens beim „Pflichtjahr“ auf einem Landgut gehört zur Bandbreite der Erfahrungen. Die 1928 geborene Zeitzeugin erzählt aus der Perspektive der geschilderten Epoche, gibt ihre Eindrücke als Kind und junges Mädchen authentisch wieder. Sie verzichtet auch auf einen moralischen Kommentar. Auch wenn von unfassbaren Verbrechen die Rede ist wie der Pogromnacht vom 9. November 1938, die sie in Elbing bei Danzig erlebt. Sie berichtet von „freudiger Erregung“ der Menschenmenge auf den Straßen, die zur brennenden Synagoge strömt. „Das ist ja fast wie beim Karneval in Krefeld“, sagt Erikas Mutter mit Blick auf ihren früheren Wohnort im Rheinland. Da schaudert der Zuhörer von heute, auch ohne erhobenen Zeigefinger.

Ungefiltert und besonders

Gerade die ungefilterte Darstellung des Geschehens beeindruckt. Etwas Besonderes an der Geschichte von Erika Bellartz ist, dass sie nicht aus der Opferperspektive berichtet, sondern als Tochter eines überzeugten Nazis, und das auch nicht beschönigt. Der Vater, der aus dem Sudetenland stammt, erhält vom Regime die deutsche Staatsangehörigkeit und findet nach Jahren der Arbeitslosigkeit eine Anstellung. „Durch diese ganzen aufbauenden Konstellationen wurde mein Vater mehr und mehr zum glühenden Anhänger des „Führers“, vergötterte Hitler von nun an regelrecht“, erzählt die Zeitzeugin. Zur Deportation jüdischer Nachbar sagt der Vater: „Es heißt … die Juden kämen irgendwohin, wo sie … eh … umgeschult würden.“

Nach dem Urlaub in der Dordogne reifte bei Rolf Bellartz die Idee, die Erinnerungen seiner Mutter aufzuschreiben und sie Interessierten als Buch zugänglich zu machen. Nach anfänglichem Zögern ließ sich Erika Bellartz darauf ein. Allerdings wählte sie ein Pseudonym für das nun vorliegende Buch „Ein Büstenhalter, ein Hut und … ein Gruß vom Führer: Aus Erika Bellartz wurde Xenia Stengel. In vielen Stunden schilderte sie ihrem Sohn ihre Erlebnisse noch einmal detailliert, aus den Tonbandaufnahmen fertigte er den Text des Buchs. „Es war einfacher, als ich gedacht hätte“, sagt Rolf Bellartz, der als Koautor des Buchs auftritt, über seine redaktionelle Arbeit. Er habe die Art des Erzählens übernehmen können, an den Sätzen auf dem Tonband war wenig zu verändern. Der Rösrather Quadratkreis Autorenverlag erkannte den Wert der authentischen Erinnerungen, gerade auch aus der Erfahrung einer Täterfamilie, und übernahm die Veröffentlichung.

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Xenia Stengel mit Rolf Bellartz: Ein Büstenhalter, ein Hut und … ein Gruß vom Führer. Erinnerungen an Kindheit und Jugend im Dritten Reich. Quadratkreis Autorenverlag, Rösrath 2020. 294 Seiten, 9,95 Euro. Das Buch ist auch in Corona-Zeiten über den Buchhandel erhältlich – über Bestellung und Postversand.

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