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Häftling 2071, 45 KiloWie ein Wermelskirchener verfolgt, deportiert und befreit wurde

Lesezeit 7 Minuten
Ingeborg

Blick ins Familienalbum: Familie Brosius mit der jüngsten Tochter Ingeborg als Säugling

  • „Wahrscheinlich hat er diese Erlebnisse irgendwo in einem Teil seines Gehirns abgelegt“, sagt Friedrich Brosius' Enkel über seinen Großvater.
  • Der Wermelskirchener Zeuge Jehovas wurde 1937 ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht.
  • 11.000 Zeugen Jehovas wurden unter Hitler und seinem Regime verfolgt, viele weil sie den Wehrdienst verweigerten.

Die Großmutter habe das Fotoalbum ursprünglich nach dem Tod des Großvaters wegwerfen wollen, erinnert sich Jephta Vossieck, 64. Zum Glück habe sie das nicht getan. Und so liegt es jetzt vor uns auf dem Tisch in einem Café in Köln: das Album des Friedrich Nathanael Brosius. Auf der ersten Seite klebt ein ausgebleichtes Stück Stoff mit drei Ecken: der „original lila Winkel“, den der Großvater acht Jahre, aufgenäht auf seiner blau-weiß-gestreiften Häftlingskleidung, über dem Herzen trug. Daneben ein Foto vom Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald mit dem Schriftzug „Jedem das Seine“.

Im Sommer 1937 war Friedrich Brosius, 32 Jahre alt und Vater zweier Töchter, in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt worden – ein Bibelforscher aus dem Rheinland, der nicht von seinem Glauben lassen wollte und lieber ins KZ ging, als sich selber untreu zu werden. Erst am 8. Mai 1945 sollte er wieder freikommen, gezeichnet von acht Jahren „Schutzhaft“ und nur noch 45 Kilo schwer.

Zeugen Jehovas wurden bereits 1933 verboten

„Mein Großvater hat oft erzählt, man hätte an seinen Hüftknochen einen Hut aufhängen können, so dünn sei er gewesen“, sagt Vossieck. Sehr viel mehr allerdings habe er nicht erzählt von seiner Zeit in Buchenwald. Kein Wort über die Leichenberge, die auf verblichenen Schwarz-Weiß-Fotos in dem braunen Album zu sehen sind. Kein Wort über die SS-Schergen, die ihn und seine Glaubensbrüder bei 20 Grad minus nur unzureichend bekleidet stundenlang im Freien arbeiten ließen.

Brosius, 1905 in Wermelskirchen geboren, hatte sich mit Leib und Seele einer Religionsgemeinschaft verschrieben, die bereits im Juni 1933 von den braunen Machthabern verboten worden war. Die Bibelforscher oder Zeugen Jehovas, wie sie sich seit 1931 nennen, verweigerten den Hitlergruß, lehnten unter Berufung auf die Bibel den Dienst an der Waffe ab und prangerten in offenen Briefen und Flugblättern die Regierung unverhohlen als unchristlich und des Teufels an. Das Regime geht von Anfang an mit brutaler Härte gegen die streitbaren Christen vor. Rund 11 000 Zeugen Jehovas werden während der NS-Zeit wegen ihres Glaubens verfolgt, diskriminiert und wie Friedrich Brosius in „Schutzhaft“ genommen.

Erste Gefängnisstrafe für Brosius 1935

Mehr als 2000 von ihnen sterben infolge der katastrophalen Haftbedingungen in Gefängnissen und Konzentrationslagern oder werden ermordet. Darunter etwa 250 junge Männer, die den Wehrdienst verweigern. Darauf steht seit Kriegsbeginn die Todesstrafe. Zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges wird an dem 29-jährigen Arbeiter August Dieckmann ein Exempel statuiert. Am 15. September 1939 wird der „fanatische Anhänger der internationalen Sekte der Ernsten Bibelforscher“ im Konzentrationslager Sachsenhausen vor den Augen von 8000 Häftlingen exekutiert.

Auch Brosius gerät schon bald in die Mühlen der NS-Justiz. Im Oktober 1935 wird der kaufmännische Angestellte vom Landgericht Düsseldorf zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt. Der Vorwurf: Er habe sich trotz des Verbots weiterhin als „Internationaler Bibelforscher“ betätigt.

„Mein Vater hat fünf Generationen unserer Familie geprägt“

Friedrich Brosius und einige andere hätten sich geweigert, vor der Verhandlung den deutschen Gruß zu erwidern, schreibt das „Wermelskirchener Tageblatt“ am 18. Oktober. Der Angeklagte habe dazu erklärt: „Wir erwarten unser Heil nur vom Höchsten. Wir sind Gott geweihte Männer und Frauen, Zeugen Jehovas, und würden es als eine Untreue gegen Christus empfinden, wenn wir den deutschen Gruß erweisen.“

Es soll nicht bei dieser einen Gefängnisstrafe bleiben. Im Juni 1936 wird Brosius erneut verhaftet. Drei Monate zuvor ist Ingeborg, seine zweite Tochter, geboren worden. „Julchen“, wie er sie in Anlehnung an ihren dritten Vornamen nennt. Wie fast alle Nachfahren des Friedrich Brosius gehört auch Ingeborg Eichhorn zu den Zeugen Jehovas.

„Mein Vater hat fünf Generationen unserer Familie geprägt“, sagt die 83-Jährige. Liebevoll, fröhlich und ohne Hass sei er gewesen, stets offen für die Bedürfnisse anderer Menschen. „Er hat unbeirrt zu seinem Glauben gestanden, egal, was er dafür auf sich nehmen musste.“ Das, sagt sie, nötige ihr bis heute große Hochachtung ab.

Zeugen Jehovas verteilen Flugblätter gegen NS-Regime

Im September 1936 kommt Brosius wieder frei. Die Lage in Deutschland hat sich verschärft. Im März 1935 ist die Wehrpflicht eingeführt worden. Einige Zeugen Jehovas sind bereits wegen Wehrdienstverweigerung zu Gefängnisstrafen und anschließender „Schutzhaft“ verurteilt worden. Andere haben ihre Arbeitsstellen oder das Sorgerecht für ihre Kinder verloren. In großen Flugblattaktionen versuchen die Bibelforscher, auf ihre bedrohliche Lage aufmerksam zu machen.

Auch Brosius beteiligt sich im Juni 1937 an der Verbreitung eines „Offenen Briefes an das bibelgläubige und Christus liebende Volk Deutschlands“. Die Unterzeichner nehmen darin kein Blatt vor den Mund. „Es ist nun eine erschreckende Tatsache, dass die gegenwärtigen Machthaber in Deutschland alle aufrichtigen Bibelchristen, die offen ihren Glauben an Jehova Gott bekennen und ihm dienen, schmähen, verleumden und mit grausamen Mitteln verfolgen“, heißt es darin.

„Der Vater war wieder da“

Die Zeugen Jehovas würden zu Tausenden „aufs Grausamste verfolgt, misshandelt und in Gefängnisse und Konzentrationslager eingesperrt“. Wenig später wird Brosius erneut verhaftet. Diesmal bleibt es nicht bei einer Gefängnisstrafe. Der 32-Jährige kommt als „Schutzhäftling“ nach Buchenwald, wo er gemeinsam mit anderen Glaubensgenossen in einem abgetrennten Block untergebracht wird. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die bibeltreuen Insassen ihre Missionstätigkeit noch im KZ fortsetzen.

Ingeborg Eichhorn soll ihren Vater erst im Sommer 1945 wiedersehen. Die Mutter ist drei Jahre nach der Verhaftung des Vaters mit den beiden Töchtern zu ihren Eltern nach Dresden gezogen. Nach der Bombardierung der Stadt hat sie im Erzgebirge eine kleine Wohnung gefunden. „Eines Tages pfiff jemand vor unserem Schlafzimmerfenster ein Lied, das wir oft bei unseren Zusammenkünften sangen“, sagt die alte Dame. „Der Vater war wieder da.“

Friedrich Brosius erzählt wenig aus seiner KZ-Vergangenheit

Auf dem Weg zurück ins Rheinland führt Friedrich Brosius Frau und Kinder auch durch das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald, wo er acht Jahre seines Lebens verbracht hat. Ingeborg Eichhorn erinnert sich noch an die Toten, die überall herumlagen. „Das habe ich nie vergessen.“ Ebenso wenig wie die Bombennacht von Dresden. „Ich konnte jahrelang kein Feuer sehen.“

Der Besuch in Buchenwald bleibt das einzige Bekenntnis des Friedrich Brosius zu seiner KZ-Vergangenheit. Mehr als „ein paar Anekdötchen“ aus jener Zeit sind ihm nicht zu entlocken. „Wahrscheinlich hat er diese Erlebnisse irgendwo in einem Teil seines Gehirns abgelegt, so dass sie ihn nicht mehr belasten konnten“, vermutet Jephta Vossieck.

Familie beginnt Nachforschungen nach Brosius' Tod

Auch Enkelin Daniela Müller kennt die Geschichte vom Hüftknochen, an dem ein Hut Platz gefunden hätte. „Ich wusste immer, dass mein Opa im KZ war, das war in unserer Familie eine offene Sache“, sagt die 45-Jährige. Ein sehr verzeihender Mensch sei der Großvater gewesen, erinnert sie sich. Einer, der nie ein böses Wort über andere verloren habe. Auch das könnte eine Erklärung für sein Schweigen sein.

Erst lange nach dem Tod des Familienoberhaupts im Jahr 1982 beginnt die Familie, erste Nachforschungen anzustellen. Eine wichtige Quelle wird ein 30-seitiger „Lebensbericht“, den Brosius 1970, zwölf Jahre vor seinem Tod, für die Europazentrale der Wachturm-Gesellschaft verfasste.

„Nicht der einzelne, nur die Gemeinschaft zählte“

Darin erzählt er ausführlich von den Schikanen der SS-Wachen, von Hunger und Diebstählen, aber auch von dem großen Zusammenhalt der Bibelforscher, die von ihrem Glauben getragen selbst die schlimmsten Prüfungen überstehen.

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2018 wendet sich Vossieck schließlich an die Arolsen Archives und bittet um Informationen über den Großvater. In dem „International Center on Nazi Persecution“ in Bad Arolsen lagern Millionen Dokumente über Verfolgte des Naziregimes. Von Brosius gibt es rund 130 Akten, die Auskunft geben über Gerichtsverhandlungen und Arbeitseinsätze. Selbst das Körpergewicht von Häftling 2071 ist mehrmals vermerkt.

Inzwischen hat sich das Bild gerundet. „Heute sehe ich meinen Großvater mit anderen Augen“, sagt Vossieck. „Ich verstehe, dass er aus Selbstschutz über vieles geschwiegen hat. Und ich verstehe auch, wie er es geschafft hat, diese acht Jahre zu überstehen, ohne an Flucht zu denken. Nicht der einzelne, nur die Gemeinschaft zählte. Dieser Zusammenhalt hat die Zeit verkürzt.“

In seiner Heimatstadt Wermelskirchen erinnert seit einigen Jahren ein Stolperstein an „Friedrich Brosius, Jahrgang 1905, KZ-Haft Buchenwald 1937 bis Mai 1945“.

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