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30 Jahre nach dem Mauerfall„Lernen, dass man eine Chance hat“

Lesezeit 7 Minuten
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DDR-Ausweise Kathrin Höhn, mit Buch Freiheit vor Mauerresten in Berlin und Kurs Zivilverteidigung in der DDR.

  • Unsere Mitarbeiterin Kathrin Höhne war damals 19 Jahre alt, als die Mauer fiel.
  • Sie spricht darüber, was die Wende damals für sie bedeutet hat und wo sie die Probleme der Einheit sieht.
  • Die Veränderungen waren nicht für alle eine Chance.

Berlin – 30 Jahre nach dem Mauerfall wird kontroverser als je zuvor über Unterschiede zwischen Ost und West diskutiert. Unsere Mitarbeiterin Kathrin Höhne war damals 19 Jahre alt. Bernd Rupprecht und Ulla Jürgensonn haben mit der Kollegin darüber gesprochen, was die Wende damals für sie bedeutet hat und wo sie die Probleme der Einheit sieht.

Frage: Wo warst du, als die Mauer gefallen ist?

Kathrin Höhne: An der Mauer, logischerweise. Ich wohnte in Ostberlin, war vorher bei den Montagsdemos dabei. Und in unserer WG, vier Frauen, hörten wir an dem Abend Radio und konnten nicht ganz verstehen, was gemeint war. Öffnet sich etwas, öffnet sich etwas nicht? Keiner von uns ist rausgegangen, bis irgendwann – nach 23 Uhr – ein Freund an die Tür klopfte und sagte: Die Mauer ist auf. Kein Mensch hat ihm geglaubt. Was machen wir, wohin?

Als wir ankamen, waren viele Leute schon da

Er sagte, er habe gehört, der Übergang Bornholmer Straße sei offen. Wir sind aber an den nächstgelegenen Übergang gefahren, das war in Friedrichshain. Als wir ankamen, waren viele Leute schon da. Alle strömten zu einem kleinen Eingang, und alle lagen sich in den Armen. Du hattest gar keinen Platz mehr, du bist nur mit den Massen geschoben worden, die Grenzbeamten waren in ihren Uniformen irgendwo dazwischen, jeder hielt seinen Ausweis hoch, und alles strömte rüber.

Als ich rübergekommen bin, sah ich als erstes diese Brücke, sehr schön, und dann auf der Brücke Punker, schwarze Lederklamotten, knallrote Haarkämme. Da hab ich gedacht: Das kann nicht der Westen sein.

Frage: Hat für dich mit der Maueröffnung ein neues Leben angefangen?

Kathrin Höhne: In dem Augenblick gab es kein größeres Gefühl von Freiheit, von Wahnsinn. Das neue Leben hat erst viel später angefangen. Ich war eine der ersten, die damals gekündigt worden sind. Ich hatte für den Berliner Rundfunk gearbeitet.

Ich war 19 Jahre alt, die ganze Situation war für mich nicht überschaubar. Ich hatte aber ein Riesenglück. Und zwar habe ich Redakteure der Deutschen Presseagentur kennengelernt, und die suchten jemanden, der die Berichterstattung aus Ostberlin übernehmen wollte. Als Radioreporterin. Nichts Größeres konnte mir passieren.

Das Nachdenken hat viel später eingesetzt

Das war die spannendste Zeit meines Lebens. Ich war vier Jahre lang Reporterin für die dpa und habe aus den neuen Bundesländern berichtet. Aus meiner Heimat, für mich also aus den alten Bundesländern. Ich war dabei, bei Mauerschützenprozessen, sogar beim Prozess gegen Erich Honecker. Das war wie ein Rausch. Das Nachdenken darüber, wie sich mein Leben verändert hat, hat viel später eingesetzt. Aber ich war dankbar für ein selbstbestimmtes Leben.

Frage: Bei vielen hat der Rausch nicht lange gehalten. Warum?

Wenn Menschen zuschauen müssen, wie Betriebe abgebaut werden, wie sie ihren Job verlieren, das hängt mit dem Verlust der Existenz zusammen. Die Veränderungen waren nicht für alle eine Chance. Für die jüngeren schon. Aber wenn ich meine Eltern anschaue: Da kamen die Goldgräber aus dem Westen und haben ihnen Versicherungen angeboten.

Wenn man 40 Jahre nicht die Wahl hatte, dann wählt man nicht. Dann empfindet man das nicht mehr als Chance, sondern als Ungerechtigkeit. Man denkt, okay, jetzt hab ich die Freiheit zu reisen, aber ich habe kein Geld dafür. Wovon soll ich meine Familie ernähren, wie sieht meine Zukunft aus? Die Ängste waren schon groß.

Wegen Job des Mannes umgezogen

Frage: Wann bist du in den Westen gegangen und warum?

Kathrin Höhne: Ich bin bis 2005 in Ostberlin geblieben. Umgezogen bin ich nicht, weil ich flüchten wollte, sondern weil mein Mann einen Job im Rheinland angeboten bekommen hat. Unsere Tochter war damals vier. Wir hatten keine Angst vor dem Westen.

Frage: War das die richtige Entscheidung?

Kathrin Höhne: Ja, wir sind hier sehr glücklich geworden. Wir wurden hier sehr herzlich aufgenommen. Und eigentlich war die Frage „Ost oder West?“ für uns damals gar nicht so das Thema. Am Anfang fand ich es zwar merkwürdig, dass sich kaum einer für den Osten interessiert hat, aber es war ja auch nicht meine Ausrichtung, in diesen Kategorien zu denken.

Frage: Hast du eine Idee, warum das Thema jetzt wieder so aktuell wird?

Kathrin Höhne: Ich bin aufgewachsen in einer kleinen Stadt, Bad Liebenwerda, rund 130 Kilometer hinter Berlin, 80 Kilometer vor Dresden. Da fährt man von der Autobahn runter und durch irgendwelche Dörfer. Die erinnern schon noch an DDR-Zeiten. Da hat man das Gefühl, es hat sich nicht viel geändert. Wenn man mit den Leuten spricht, merkt man, dass sie das Gefühl haben – und das ist ja auch so, dass Wessis in den meisten Bereichen dominieren.

Vielleicht bin ich zu lange weg

Der Unterschied zwischen Stadt und Land ist nach wie vor groß. Der Unterschied zwischen arm und reich wird auch größer. Das Gefühl hat man im Osten wohl stärker als im Westen, obwohl es diese Probleme hier ja genauso gibt. Aber wenn man seinen Job kurz nach der Wende verloren hat und dann wieder, fühlt man sich zweifach bestraft. Vielleicht bin ich zu lange weg, um das genau einschätzen zu können.

Frage: Was sagen denn Freunde, was sagt die Familie, die noch dort lebt?

Kathrin Höhne: Mein Bruder ist Tischlermeister, der sagt, er muss sich durchfuchsen. Für ihn war vorher alles geklärt, er hatte die Werkstatt vom Vater übernommen, er hatte genügend Aufträge.

Jetzt muss er sich selber kümmern, und dann sagen die Leute, sie möchten einen Preis haben wie bei Ikea, den kann er aber nicht machen, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Für ihn ist es schwieriger geworden. Im Osten müssen sich viele Menschen alles hart erkämpfen, was früher selbstverständlich war. 

Frage: Was sagen deine Eltern?

Kathrin Höhne: Mein Vater ist 2000 gestorben, meine Mutter ist heute 75. Die freut sich, weil sie als Rentnerin die Reisen machen kann, die sie vorher nicht machen konnte. Auch mit wenig Geld. Die will gar nicht nach Australien, die freut sich, wenn sie nach Österreich fährt. Sie ist positiver gestimmt als mein Bruder. Die ältere Generation hat ja bei der Wahl in Thüringen verhindert, dass die Rechtsradikalen noch stärker geworden sind.

Das setzt ein gewisses Selbstbewusstsein voraus

Die Ergebnisse sind erschreckend. Es liegt sicher auch daran, dass sich Leute abgehängt fühlen, ob sie es sind oder nicht. Man muss erst lernen, dass man eine Chance hat, dass man wählen kann.

Das setzt ein gewisses Selbstbewusstsein voraus, das in der DDR nicht gewachsen war. In Thüringen hat die Linkspartei ihr Image als Protestpartei verloren. Also kommt vielleicht jeder fünfte auf die Idee, aus Protest die AfD zu wählen, weil der Bus nicht pünktlich kommt und die von der AfD geschürte Angst vor einer pluralistischen offenen Gesellschaft greift. Die war in der DDR kaum präsent.

Frage: Viele Menschen in den neuen Bundesländern sagen heute noch, der Wessi verstehe den Ossi nicht. Stimmt das?

Mauern einreißen und Brücken bauen

Kathrin Höhne: Tja. Wir haben gelernt, gemeinsam Mauern einzureißen, aber nicht, zusammen Brücken zu bauen. Vielleicht ist man in der Vergangenheit zu sehr über Befindlichkeiten im Osten hinweggegangen. Ich stimme mit der Autorin und ehemaligen DDR-Spitzensportlerion Ines Geipel überein: „Diktatur kann keine Heimat sein.“

Das ist sie auch nicht, das heißt aber nicht, dass man dort nicht gelebt hat, dass man dort nicht großgeworden ist, nicht glücklich großgeworden ist, dass man dort nicht seine erste Liebe erlebt hat, zum ersten Tanz gegangen ist. Wenn man den Osten reduziert auf die Dinge, die in einem Unrechtsstaat stattgefunden haben, vermittelt man den Menschen das Gefühl, dass man ihnen die Identität nimmt.

Frage: Was muss geschehen zwischen Ost und West, damit es besser wird?

Kathrin Höhne: Wir müssten mehr miteinander reden, mit viel präziseren Erinnerungen und viel konkreterem Wissen über Ost wie West. Vielleicht müssen wir noch mehr Geschichten erzählen. 

Das Gespräch führten Bernd Rupprecht und Ulla Jürgensonn

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