Ängste, Depressionen, motorische UnruheSo sehr leiden junge Menschen unter Corona

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Kinder und Jugendliche bauen in der Schule ihre sozialen Kompetenzen aus.

Kinder und Jugendliche bauen in der Schule ihre sozialen Kompetenzen aus.

Pulheim – Yvette Berg (43) und Silvia Görres (42) sind Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen. Seit mehreren Jahren arbeiten sie mit weiteren Kolleginnen in eigener Praxisgemeinschaft an der Venloer Straße in Pulheim. Der Schwerpunkt liegt im Bereich Verhaltenstherapie bis zum 21. Lebensjahr. Niklas Pinner sprach mit ihnen.

Abschlussklassen und Grundschüler dürfen wieder in die Schule. Wie wichtig ist der Schulbesuch für Kinder und Jugendliche nach dem Lockdown?

Berg: Sehr wichtig. Auch wenn es natürlich so ist, dass einige Kinder und Jugendliche Angst vor Ansteckungen haben und sich manche mit Schulängsten im Lockdown durchaus entlastet gefühlt haben. Wichtig ist, dass Kinder und Jugendliche ihre sozialen Kompetenzen wieder ausbauen können, Freunde treffen können. Man merkt, dass die Motivation für das Homeschooling verständlicherweise bei vielen schwindet.

Was macht der Lockdown mit den jungen Menschen?

Görres: Für einen kleinen Teil bedeutet es Entlastung von sozialem Stress. Der Großteil leidet aber. Gewohnte Alltagsstrukturen fallen weg, Familien müssen sich neu organisieren. Auch die Hobbys als wichtige Ressourcen fehlen. Dadurch spielt sich bei vielen ein großer Teil der Freizeit vor dem Bildschirm ab.

Berg: Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird teilweise umgedreht, die Schlafhygiene geht verloren. Psychische Gefährdungen nehmen zu, Ängste, Depressionen, motorische Unruhe. Viele Jugendliche haben an Gewicht zugenommen. Sogar in gut strukturierten Familien fängt das Gefüge an wegzubrechen durch die Doppelbelastung der Eltern.

Gibt es Unterschiede darin, wie das jeweilige Geschlecht die Situation annimmt?

Berg: Mädchen suchen häufiger den Kontakt, rufen an, schreiben Nachrichten. Jungs sind teilweise sehr isoliert. Jugendliche werden ja in einer wichtigen Phase der Autonomieentwicklung zurückgeworfen in die Familien.

Görres: Genau, diese Isolation widerstrebt der normalen Entwicklung Jugendlicher, sich abzulösen und selbstständig zu werden.

Silvia_Goerres

Silvia Görres ist Kinder- und Jugendlichentherapeutin.

Und die Auswirkungen auf den familiären Zusammenhalt?

Görres: Wir nehmen wahr, dass mit den Sorgen auch die Reizbarkeit deutlich gestiegen ist, und zwar in allen sozialen Schichten. Das, was vorher schon ein psychisches, familiäres oder soziales Problem war, wird durch den Lockdown noch verschärft. Es gibt mehr Konflikte und leider mitunter auch mehr Gewalt.

Berg: Und nicht nur körperliche, sondern auch psychische Gewalt. Konflikte können ausarten. Wenn Eltern unter dem enormen Druck ihre Kinder anschreien, abwerten oder drohen, löst das etwas aus. Es fehlen einfach Hilfen für Familien.

Nun gibt es ganz unterschiedliche Voraussetzungen in den Familien.

Berg: Ja. Bei Familien mit mehreren Kindern auf engem Raum ist das Homeschooling natürlich erschwert. Sie müssen sich Geräte teilen, im Hintergrund ist es laut. Wir hören von Fällen, in denen Schüler fast „verschwinden“. Sie tauchen „digital“ nicht auf.

Görres: Dann gibt es Familien, in denen es Sprachprobleme gibt. Manche Eltern können ihre Kinder nicht so unterstützen, wie sie es möchten, manche Kinder haben kein eigenes Zimmer. Es gibt kaum Rückzugsmöglichkeiten. Das ist nicht einfach.

Sind Schulen also zu lange geschlossen worden?

Görres: Ich bin keine Virologin, aber aus kinderpsychotherapeutischer Sicht definitiv. Diese Perspektive hätte schon länger in die Erwägungen der Politik mit einbezogen werden müssen. Es geht nicht nur um die Wirtschaft und die Infektionszahlen, sondern auch um Entwicklungsdefizite und mangelnde Entwicklungschancen.

Sind die wieder aufzuholen?

Berg: Ein Stück weit kann man das sicher wieder aufholen. Man sollte jetzt aber bereits daran denken, was nach Corona kommt und deutlich mehr Geld für Bildung und Förderung von Kindern und Jugendlichen in die Hand nehmen. Es ist immer noch so, dass die Bildungschancen der Kinder stark mit dem Bildungsgrad und Einkommen der Eltern zusammenhängen. Die Schere ist jetzt noch weiter auseinander gegangen.

Können Sie das näher erläutern?

Berg: Kinder aus Akademikerfamilien haben einen leichteren Zugang zu höheren Bildungsabschlüssen. Solche aus sogenannten bildungsfernen Familien dagegen haben oft Potenzial, aber dennoch schlechtere Chancen. Weil diese Familien nicht die Bedingungen vorfinden, wird dieser Unterschied gerade momentan noch eklatanter. Hierdurch erhöht sich gerade momentan auch das Risiko für zukünftige psychische Probleme in dieser Generation.

Yvette_Berg

Yvette Berg findet, aus kindertherapeutischer Sicht waren die Schulen zu lange geschlossen.

Was könnte man noch tun?

Berg: Neben dem Bildungsbereich muss auch die Jugendhilfe finanziell und personell gestärkt werden. Beim Allgemeinen Sozialen Dienst erfahre ich außerhalb der Dienstzeiten per Bandansage, wo ich nachts eine ausgefallene Laterne melden kann, aber nicht wohin sich Kinder in Not rund um die Uhr wenden können. Dafür sind die Strukturen in den kleineren Städten oft gar nicht gegeben.

Görres: Ein größeres, strukturelles Problem in unserem Fachgebiet ist, dass sich die Bedarfsplanung an Psychotherapiepraxen nicht mit dem realen Versorgungsbedarf deckt.

Was meinen Sie?

Görres: Es gibt eine spürbare Unterversorgung in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Viele warten sechs Monate und länger auf einen Therapieplatz. Um die Versorgung zu verbessern, muss die Gesundheitspolitik auf die Erfassung des tatsächlichen Bedarfs ausgerichtet werden. Wir wünschen uns, dass allen Kindern, Jugendlichen und Familien, die Hilfe benötigen, eine zeitnahe und wohnortnahe Versorgung ermöglicht wird.

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Vergrößert sich das Problem durch Corona noch?

Görres: Ja, viele Kinder und Jugendliche werden zu kämpfen haben. Ich weiß nicht, ob wir in einem kollektiven Trauma leben, aber zumindest in einer kollektiven Verunsicherung.

Können Sie das auch anhand Ihrer Anfragen ablesen?

Berg: Es sind deutlich mehr geworden.

Görres: Ich würde sogar sagen, doppelt so viele.

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