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Herbergssuche im 21. JahrhundertEhemalige Obdachlose berichten von ihrem Schicksal

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Obdachlose Symbolbild

So sichtbar wie in manchen Großstädten ist die Obdachlosigkeit im Kreisgebiet nicht. Doch auch hier gibt es sie.

  • Wie vor 2000 Jahren finden auch heute einige Menschen keine Unterkunft.
  • Zwei ehemalige Obdachlose erzählen von der Herbergssuche im 21. Jahrhundert.

Frechen – „Es begab sich aber zu der Zeit …“, so beginnt die Weihnachtsgeschichte nach dem Evangelisten Lukas, die in einem Stall in Bethlehem spielt, in dem Christus geboren wurde. „Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“, heißt es weiter. Wie vor 2000 Jahren finden auch heute einige Menschen keine bessere Unterkunft.

Martin F. (52) und Andrea S. (48, Namen geändert) wissen davon zu berichten. Erst die Wohnungslosenhilfe des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM) in Frechen brachte sie nach krummen Lebenslinien in ein halbwegs geordnetes Leben in kleinen Wohnungen zurück.

Ohne Wohnsitz keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung

Martin ist in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen. Nach einer Maurerlehre ging er zur Nationalen Volksarmee  der DDR, hatte Frau, zwei Kinder, ausreichend Geld und eine  Wohnung. Ein Zwischenfall bei der Armee, bei dem ein  Kamerad ums Leben kam, warf ihn aus der Bahn. Es folgten Trennung, Verlust der Arbeit, Geld weg, kein Dach mehr über dem Kopf.

Anfang des Jahrtausends zieht er ins Rheinland zu einer Freundin. Die Beziehung endet nach wenigen Tagen. Ohne Wohnsitz bekommt er keine Arbeit, ohne Arbeit keine Wohnung. Also macht  er in Köln „Platte“, schläft in Ladeneingängen in der Schildergasse, duscht und verpflegt sich in einer Anlaufstelle für Obdachlose am Hauptbahnhof und arbeitet jahrelang schwarz auf Baustellen. Ein wenig Geld hat er dadurch immer. „Wenn es zu kalt war, bin ich für ein, zwei Tage in ein Hotel gegangen“, sagt er.

Seine Weggefährten sind zehn Jahre lang zwei andere Obdachlose. „Eine treuere Familie habe ich nie gehabt.“ Kommt einer abends nicht zur gewohnten Zeit zum Schlafplatz, wird gesucht. Alles wird geteilt. Alkohol wird nur wenig getrunken, Drogen sind tabu. Nur zweimal in den zehn Jahren wird er von der Polizei kontrolliert. Er zeigt seinen abgelaufenen Personalausweis vor und darf seiner Wege gehen. „Man muss sich unauffällig verhalten“, ist sein Erfolgsrezept für ein unbehelligtes Leben.

„Ich war frei wie nie“

Nur gelegentlich wird er von jugendlichen Disco-Heimkehrern angepöbelt, einmal auch an seinem Schlafplatz, an dem er von den Ladenbesitzern nachts geduldet wird, mit Bierflaschen beworfen. Dann setzt ihn sein Arbeitgeber drauf und zahlt nicht. Trotzdem sagt er: „Es war eine schöne Zeit. Ich war frei wie nie. Aber danach war ich am Ende.“

Auf den Gedanken, sich Hilfe zu holen, kommt er nicht. Er hat wenig Erfahrung mit Behörden. „Ich wusste nicht wohin, hatte mein Leben aufgegeben. Ohne meine Freunde hätte ich das nicht überlebt.“ Die bemerken, dass es ihm schlecht geht. Sie bringen  ihn 2013 in ein Krankenhaus, wo er ohne Krankenversicherung behandelt wird. Von dort wird er an den SKM in Frechen verwiesen, kommt in ein Obdachlosenheim, später in eine notdürftige Kellerwohnung.

Nach langer Suche können die Sozialarbeiter auf dem engen Markt für bezahlbaren Wohnraum eine kleine Wohnung für ihn finden. Arbeiten und Geld verdienen ist zurzeit kein Thema. Durch die Krankheit ist Andreas F. arbeitsunfähig. „Erst hatte ich Arbeit, aber kein Dach über dem Kopf. Jetzt habe ich eine Wohnung, aber kann nicht arbeiten.“ Durch die Hilfe der Sozialarbeiter hat er wieder Kontakt zu seinen beiden Kindern. Eins wohnt in Hamburg. Dort wird er Weihnachten verbringen und  seine fünf Enkelkinder sehen, zwei davon zum ersten Mal.

„Balsam für meine Seele“

Auch Andrea S. hat das Leben übel mitgespielt. In der Kindheit im familiären Raum missbraucht, gehen später zwei Ehen in die Brüche, für zwei Kinder hat sie den Beruf der Näherin und Altenpflegehelferin aufgegeben. Sie zieht zur Mutter. Die Alkoholikerin schmeißt sie im Rausch aus der Wohnung, sie schläft im Auto, dann im Obdachlosenhaus. Später landet auch sie in einem Keller. Auf Vermittlung des Sozialdienstes kommt sie in einer Werkstatt für Menschen mit Beeinträchtigungen unter.

„Das ist Balsam für meine Seele. Da will ich bleiben“, sagt sie. Wichtiger als Beziehungen zu Menschen sind für sie ihr Hund und ihre Katze. „Der Kater hat mir in der schlimmsten Zeit geholfen zu überleben“, sagt die Frau, deren dritte, erst kürzlich geschlossene Ehe zurzeit wackelt. Auch sie konnte mit Hilfe des SKM den Kontakt, den die Kinder abgebrochen hatten, wieder herstellen, eine Wohnung finden und freut sich auf das Weihnachtsfest, bei dem ein Besuch bei Kindern und Enkeln der Höhepunkt werden soll.

Hohe Dunkelziffer bei Obdachlosigkeit

Anders als in Köln sieht man sie im Rhein-Erft-Kreis nur selten. Dennoch gibt es sie. 700 Beratungsanfragen von in Wohnungsnot geratenen Menschen verzeichnete die Wohnungslosenhilfe des Sozialdienstes Katholischer Männer (SKM) im vergangenen Jahr, die Hälfte davon ohne festen Wohnsitz. Die Frechener Beratungsstelle in der Hasenweide ist Anlaufstelle für Hilfesuchende aus dem ganzen Kreisgebiet.

„Die Dunkelziffer liegt noch deutlich höher“, sagt SKM-Vorstandsvorsitzender Christian Schumacher. Viele lebten bei Bekannten. Wirklich draußen schliefen fünf bis zehn Prozent der Wohnungssuchenden. „Die Zahl der Menschen wächst, die im Niedriglohnsektor arbeiten und trotz mehrerer Jobs die Miete nicht mehr bezahlen können“, nennt Schumacher einen Grund für Obdachlosigkeit.

Helfer sind mit Fallzaheln überfordert

„Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, denen das Wasser bis zum Hals steht“, ergänzt Michael Krammer, einer von zwei Sozialarbeitern in der Beratungsstelle. „Wenn gesundheitliche oder familiäre Probleme dazukommen, gerät das Ganze ins Rutschen“, sagt Schumacher. Krammers Kollegin Karina Dreja hat die Erfahrung gemacht, „dass oft die Fronten verhärtet sind zwischen Vermieter und Mieter“. Da will die Beratungsstelle früh vermitteln, um eine Räumungsklage zu vermeiden.

Mietrückstände, Schulden, Arbeitslosigkeit – wer mit einem solchen Rucksack von Problemen eine Wohnung sucht, hat es schwer. „Mit einem Schufa-Eintrag gibt es keinen Mietvertrag“, sagt Krammer. Zudem ist bezahlbarer Wohnraum knapp. Im sozialen Wohnungsbau werde zu wenig getan. Dabei sei der Bedarf steigend. Das SKM hat in Gymnich vier Wohnungen ausgebaut für acht psychisch belastete Obdachlose. „Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt der SKM-Chef.

Auch die Helfer sind mit den Fallzahlen überfordert. „Wir haben kreisweit seit 1987 unverändert nur zwei Sozialarbeiter für Wohnungslose“, so Schumacher. Neben der Frechener Beratungsstelle sind die auch in einigen Jobcentern zu festen Zeiten ansprechbar. Der SKM kann dennoch darauf verweisen, dass 64 Prozent der Anfragen in 2017 erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Für viele dauert der Weg zurück in die eigenen vier Wände jedoch zwei bis drei Jahre.

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