Abo

Hinterbliebene aus Wesseling berichtetMutter fiel Serienmörder zum Opfer

Lesezeit 4 Minuten
Ein Bild aus glücklichen Tagen, Hella Mock als kleines Mädchen mit ihrer Mutter, dem Vater und ihrem Bruder.

Ein Bild aus glücklichen Tagen, Hella Mock als kleines Mädchen mit ihrer Mutter, dem Vater und ihrem Bruder.

Wesseling – Wie einen Schatz hütet Hella Mock (75) die beiden abgegriffenen Heftchen, die Tagebücher ihrer Mutter. Zusammen mit ein paar Fotos, einer fast fertig gestickten Kaffeedecke, einigen zerlesenen Insel-Büchlein und einem kleinen Goldring sind sie alles, was der inzwischen 75-jährigen Wesselingerin von ihrer Mutter geblieben ist. Ihre Geschichte ist die erste von insgesamt 20 ausgewählten Einsendungen für unseren Sommerwettbewerb „Worte, die mich bewegen“.

Hella Mock war drei Jahre alt, als sie ihre Mutter verlor. Diese starb auf dem Heimweg im späten Herbst 1945 zwischen Remscheid und Wernigerode. „Meine Mutter wurde ermordet“, sagt Mock. Kurz vor Weihnachten habe ihr Vater die Leiche seiner Frau identifizieren müssen. Erst viel später hat Hella Mock erfahren, dass ihre Mutter dem 1950 als Serienmörder verurteilten Rudolf Pleil zum Opfer gefallen war, der im „Braunschweiger Prozess“ zahlreiche Morde an Frauen gestand.

Bei ihr zu Hause wurde dieses Kapitel totgeschwiegen. Ihr Vater habe ihr später allerdings noch von der Zeit erzählt, als er in den letzten Kriegstagen zu den Volkssturmsoldaten eingezogen wurde und schon am ersten Tag in russische Gefangenschaft geriet, im Sommer 1945 jedoch wieder freigelassen wurde.

Heimlich, wenn ihr Vater und ihre spätere Stiefmutter nicht zu Hause waren, sind Hella Mock und ihr Bruder zum Speicher hinauf und haben in den alten Unterlagen nach den Spuren ihrer Mutter gesucht. Dabei stießen sie auf die Tagebücher. Hella Mock saugte jedes Wort in sich auf.

Kaum eigene Erinnerung an die Mutter

Für sie sind diese Heftchen ein unbeschreiblicher Reichtum. Eigene Erinnerungen an ihre Mutter hat sie nämlich kaum. Durch die Aufzeichnungen war es ihr nun möglich, ihrer Mutter Jahre nach ihrem so grausamen Tod ein bisschen in die Seele zu schauen und für einen begrenzten Zeitraum zu erfahren, was sie fühlte, dachte und tat. „Sie war eine gute und fürsorgliche Mutter und eine liebevolle Ehefrau“, ist sich Hella Mock sicher. Unwillkürlich kommen ihr auch heute noch die Tränen. Denn nicht nur, dass ihre Mutter die Geschehnisse um sich herum aus den letzten Kriegs- und Nachkriegswochen aus ihrer Sicht festhielt, sie schrieb in ihren Büchlein auch auf, was ihr auf der Seele brannte und was sie ihrem geliebten Ehemann unbedingt erzählen wollte – kleine Details aus dem Alltag und viele Geschehnisse, bei denen von ihr, Hella Mock die Rede ist.

„Ich muss meinen Vater, als er doch noch in den Krieg musste, sehr vermisst haben“, sagt die 75-Jährige nachdenklich. So steht in den Aufzeichnungen folgendes: „Ich war mit Hella mal auf dem Berg. Sie fragte mich ganz ernstlich, wo denn der Volkssturm wäre, sie möchte dem Vati guten Tag sagen.“

An anderer Stelle hat ihre Mutter notiert: „Hella hat wieder öfter nach Dir gefragt. Sie sagte: »Ich habe den Vati so lange nicht mehr in den Arm genommen.«“ Dank dieser kleinen längst vergilbten Zeilen erfuhr Hella Mock auch, dass sie sich als kleines Kind das Schlüsselbein gebrochen hat: „Ich bin nun heute mit ihr beim Arzt gewesen, der zu meinem großen Schreck einen Schlüsselbeinbruch feststellte, der aber Gott sei Dank schon richtig angeheilt ist.“

„Unsere Familie wurde auseinandergerissen“

„Meine Mutter muss sich damals große Vorwürfe gemacht haben“, vermutet Hella Mock, denn wie eine Entschuldigung an ihren Mann klingen die nächsten Sätze ihrer Mutter: „Weil die Sache nun gut verläuft, hoffe ich, dass du mir nicht böse bist. Hellas Ärmchen muss nun weiter sehr geschont und vorsichtig behandelt werden.“ Nur einige Seiten dahinter steht: „Lieber Otto, schon wieder ist deine kleine Hella-Maus krank – seit drei Tagen.“

Mitunter waren es Tage und Wochen, da konnte Hella Mock die Büchlein nicht ansehen und lesen, so sehr wühlten die geschriebenen Worte ihrer Mutter sie auf. Ihnen folgten aber auch Phasen, in denen sie vor Glück weinen musste, glücklich darüber, diese Tagebücher lesen und in den Händen halten zu können.

Nach dem Tod ihrer Mutter war ja nichts mehr, wie es war. „Unsere Familie wurde auseinandergerissen“, berichtet Hella Mock. Ihr Bruder sei bei den Großeltern geblieben, sie selbst kam zunächst zu ihrer Tante nach Remscheid. „Unsere gemeinsame Kindheit war vorbei“, sagt sie.

Erst als ihr Vater Jahre später wieder geheiratet habe, habe er auch seine beiden herangewachsenen Kinder in seine neue Familie geholt.

KStA abonnieren