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Angst vor BrexitDiese Briten aus Rhein-Sieg werden „in letzter Minute“ Deutsche

Lesezeit 5 Minuten
Gordon Matthews zeigt seinen Personalausweis.

Gordon Matthews zeigt seinen Personalausweis.

Rhein-Sieg-Kreis – „Ich bin so erleichtert.“ Alexandra Pack nimmt die Urkunde entgegen, auf der es schwarz auf weiß steht: Sie ist Deutsche. Die 48-jährige Londonerin, die seit 26 Jahren in Deutschland lebt, hat sich einbürgern lassen. „In letzter Minute“, sagt die Englisch-Lehrerin am Bodelschwingh-Gymnasium in Windeck. Sie dürfte eine der letzten Engländerinnen im Kreis sein, die noch die doppelte Staatsbürgerschaft bekommt. Nach dem Brexit erlischt die Möglichkeit, den britischen Pass zu behalten.

Als 2016 das Referendum mit dem Ja zum EU-Austritt ausging, sei sie fassungslos gewesen, erzählt Pack nach der Feierstunde im Siegburger Kreishaus. „Ich war so überzeugt, dass es dazu nicht kommen würde.“ Ein ungeordneter Brexit wurde immer wahrscheinlicher, und ihr wurde schmerzlich klar: „Die machen das wirklich!“

„Was wird aus mir?“

Das war die Frage, die sie dazu trieb, die Einbürgerung zu beantragen. Vorher sei das nie ein Thema für sie gewesen, seit sie als Studentin mit dem Erasmus-Programm nach Köln kam, wo sie ihren Mann kennenlernte. Er sehe die Notwendigkeit der Einbürgerung nach wie vor nicht, und auch ihre jüngste Tochter Lucy (20) sagt: „Ich finde es merkwürdig, dass meine Mama jetzt Deutsche ist.“

Auch die Psychologiestudentin, die die doppelte Staatsbürgerschaft seit der Geburt besitzt, hadert mit dem Brexit: „Ich habe mich immer mehr Großbritannien zugehörig gefühlt. Aber jetzt spüre ich, die möchten mich eigentlich nicht da haben.“

Brexit sei Fremdenfeindlichkeit, sagt Jeanette Plag (67) aus Sankt Augustin. 40 Jahre schon lebt sie hier, ist mit einem Deutschen verheiratet, hat bis zu ihrer Pensionierung im öffentlichen Dienst gearbeitet. Auch sie hat jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft. „In Manchester, wo ich aufgewachsen bin, haben viele für das Ausscheiden aus der EU gestimmt“, berichtet sie. Sie versteht ihre Landsleute nicht mehr, „diese reisefreudigen Engländer, die gleichzeitig Brexit-Befürworter sind“.

Die Wirtschaft werde hoffentlich nicht kollabieren, sagen beide Frauen; das Gesundheitssystem, der National Health Service, aber werde massiv leiden. „Das wird eine Katastrophe“, sagt Pack. „Viele ausländische Ärzte arbeiten in Großbritannien, manche fliegen für ein paar Arbeitstage aus Deutschland ein. Das wird alles nicht mehr möglich sein.“ Ihre Mutter ist Diabetikerin. „Vielleicht muss ich ihr demnächst Päckchen mit Insulin schicken.“

Gordon Matthews ist seit Dezember 2018 deutscher Staatsbürger. „Ich fühle mich schon ewig als Europäer“, erzählt der 63-Jährige. Und sowieso habe er Deutscher werden wollen. Der Brexit habe diesen Plan lediglich beschleunigt.

Im Internet für Einbürgerungstest geübt

Mehrere Monate hat das Verfahren gedauert, für den Einbürgerungstest hatte er ein paarmal im Internet geübt. „Sinnvoll“ fand er das. „Wenn ich hier lebe, ist es gut, das alles zu wissen.“ Nicht zuletzt sei ja das Grundgesetz „ein Grund, Deutscher zu werden“. In Großbritannien gebe es das ja nicht, was Matthews „ein bisschen problematisch“ findet.

Mehr Menschen aus Grossbritannien

Der bevorstehende Brexit wirft seine Schatten voraus: 58 Briten haben im Jahr 2018 im Rhein-Sieg-Kreis die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Auch bei der ersten Einbürgerung des neuen Jahres stellen Briten mit neun Personen eine der größten Gruppen, die die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Nur aus der Türkei und aus Rumänien kamen mit jeweils elf Personen mehr Menschen, die sich einbürgern ließen.

Die Zahl der Briten, die die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, steigt seit dem Referendum auch landesweit deutlich. Das statistische Landesamt hat auf Anfrage die Zahlen mitgeteilt: 2015 waren es 132 Personen, im Jahr 2016 bereits 684 Menschen und 2017 schon 1741. Die Zahl für 2018 liegt noch nicht vor.

Eingebürgert werden können Menschen mit unbefristetem Aufenthaltsrecht, die seit mindestens acht Jahren in Deutschland leben, ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten und nicht wegen einer Straftat verurteilt wurden. Voraussetzung sind entsprechende Deutschkenntnisse, das Bekenntnis zum Grundgesetz und ein Einbürgerungstest. Die alte Staatsbürgerschaft wird in der Regel aufgegeben. Für EU-Bürger gilt das allerdings nicht. Ein eingebürgerter Brite darf also, solange sein Heimatland noch in der EU ist, seinen britischen Pass behalten. (seb)

Geboren im südenglischen Portsmouth, ging er nach der Schule für ein Jahr nach Österreich, seit Anfang der 80er reiste er jährlich nach Deutschland. Die Literatur hat ihn interessiert, die Geschichte. Von 1990 bis 2001 lebte er bei Wetzlar in Mittelhessen; vor dreieinhalb Jahren zog er, inzwischen mit einer Niederländerin verheiratet, von Brüssel nach Siegburg. Im Ausland zu leben, war für die Familie Matthews keine Überwindung. Als „friedliebend und weltoffen“ bezeichnet Gordon Matthews die Freikirche der Quäker, der er wie schon der Vater angehört.

Den Brexit bezeichnet er als „totalen Blödsinn“. Auch eine Mehrheit seiner sechs Geschwister und die jüngere Verwandtschaft hätten den Austritt abgelehnt, erzählt er. Lediglich einem Bruder traut er zu, für den Brexit gestimmt zu haben. Aber: „Wir haben nicht darüber gesprochen.“ Dass es 1973 bereits ein Referendum in Großbritannien gab, ruft er in Erinnerung. Damals ging es um den Beitritt zum Gemeinsamen Markt. „Ich habe das auch als Friedensprojekt verstanden“, begründet er seine Zustimmung. Damals wie heute engagiert er sich für die Friedensbewegung, findet es „gut, wenn die einzelnen Staaten Macht abgeben an die EU oder die Vereinten Nationen“.

Gleichwohl hat er auch Verständnis für die nationalen Bestrebungen der Schotten im Norden des Königreiches. „Ich kann verstehen, dass viele ärmere Leute sehr gelitten haben“. In jeder Stadt Großbritanniens gebe es inzwischen eine „Foodbank“, vergleichbar den deutschen Tafeln. Eine Reform der Wirtschaftspolitik in der Union sei notwendig, „auszutreten ist aber nicht die Lösung“, sagt er.

Dass Theresa May noch eine Parlamentsmehrheit für ihr Austrittsabkommen findet, glaubt Gordon Matthews „eher nicht“; er hofft auf eine Fristverlängerung. „Dann müssten sie ein Abkommen schließen, dass Großbritannien in einer Zollunion bleibt.“ Sein persönlicher Favorit ist ohnehin eine neue Abstimmung: Um acht Prozent liegen die Befürworter eines Verbleibs in der EU derzeit vor den „Brexiteers“, sagt er unter Berufung auf britische Medien.

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