Die dienstälteste Statistin der Bonner OperBäumchen, Botin, Bauchtänzerin

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Am 23. September 1969 war ihre Premiere als Schreibkraft in einer Inszenierung von Franz Kafkas „Der Prozess“ : Inzwischen ist die Siegburgerin Gerti Kunze dienstälteste Statistin an der Bonner Oper.

Am 23. September 1969 war ihre Premiere als Schreibkraft in einer Inszenierung von Franz Kafkas „Der Prozess“ : Inzwischen ist die Siegburgerin Gerti Kunze dienstälteste Statistin an der Bonner Oper.

  • Sie war Postbotin, kesse Blondine und Bäumchen in Hänsel und Gretel.
  • Gerti Kunze ist seit über 50 Jahren Statistin in der Bonner Oper.
  • Während ihrer Dienstzeit hat sie viele bekannte Künstler getroffen.

Bonn – Gerti Kunze hat zum Treffen in einem Siegburger Café einen Ordner voller Erinnerungen mitgebracht: Bilder, Zeitungsausschnitte, Notizzettel, eine Dankurkunde von Generalintendant Bernhard Helmich zieht sie nach und nach unter dem Pappdeckel hervor, den das alte, kreisrunde grüne Logo des Theaters Bonn ziert. Es ist ein pralles Theaterleben, das zum Vorschein kommt.

Premiere vor 50 Jahren

Die Siegburgerin wirkt als dienstälteste Statistin an der Oper, dabei hat sie am Schauspiel angefangen. Es begann am 14. September 1969 mit einer Frage des damaligen Statistenführers Rolf Herberz beim Bier in der „Theaterklause“, ob sie sich vorstellen könne, als Statistin zum Ensemble zu gehören. Sie konnte, und am 23. September 1969 war ihre Premiere, sie stand als Schreibkraft in einer Inszenierung von Franz Kafkas „Der Prozess“ auf der Bühne; das war unter der Intendanz von Karl Pempelfort.

Komparsen

Jedes Theater braucht Statisten. In der Regel ist es eine Nebentätigkeit, die vor allem von Studenten, Hausfrauen oder Rentnern ausgeübt wird. Meist tritt der Statist – auch Komparse oder Kleindarsteller genannt – in Massenszenen auf. Der Deutsche Bühnenverein sagt dazu: „Bei eher dürftiger Bezahlung besteht die Aufgabe des Statisten darin, anwesend zu sein, ohne individuell aufzufallen.“

Wer als Komparse auf die Bühne möchte, muss laut Bühnenverein in der Regel an Vormittagsproben teilnehmen können und manchen Abend für einen Auftritt Zeit haben. (dbr)

Es folgte ein Auftritt im Musical „Hello, Dolly“; in Brechts „Dreigroschenoper“, die bald danach unter der Intendanz von Hans-Joachim Heyse auf dem Spielplan stand, durfte sie beim Huren- und Bettlervolk mitsingen: „Und dann hat es mich nicht mehr losgelassen.“

Bäumchen in „Hänsel und Gretel“

Gerti Kunze, bis zu ihrem vorzeitigen Ruhestand 2004 Chefsekretärin in der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin des Siegburger Krankenhauses, kann die Zahl ihrer Komparsenrollen, für die sie unter acht Intendanten engagiert wurde, nicht mehr zählen. „Es sind Hunderte“ und beileibe nicht nur stumme. Auf Fotos ist sie als Prostituierte in Puccinis „Manon Lescaut“ zu sehen, als Postbotin, als kesse Blondine, die auf einer Treppe Bein zeigt. In Verdis „Aida“, inszeniert von Dietrich Hilsdorf, agierte sie aus dem Parkett, musste sich durch die Zuschauerreihen nach vorn drängen, um ein paar auf der Bühne singende Kinder, angeblich ihre Enkel, zu fotografieren: „Es gab einige Proteste“.

Für Rossinis „Italienerin in Algier“ lernte sie Bauchtanz, in Humperdincks „Hänsel und Gretel“ verwandelte sie sich in ein Bäumchen. Dieses Märchenstück gehört seit 1995 zum Repertoire des Opernhauses. Im zweiten Akt verirren sich Hänsel und Gretel in einem Wald, und die Bäume lassen dabei mittels eines Schalters Lichterketten leuchten. Gerti Kunze: „Den muss man vor Beginn in der Hand halten, sonst findet man ihn nicht.“ Und genau das passierte einmal: Sie stand ohne Schalter da, als der Vorhang aufging. „Ich konnte Anjara Bartz, die den Hänsel sang, noch zuzischen: ,Finde meinen Schalter’.“

Die Mezzosopranistin, in dieser Saison unter anderem in der „Fledermaus“ (Premiere: 8. März) zu erleben, schlich um das Bäumchen herum, um scheinbar Beeren zu suchen und zischte zurück: „Ich finde ihn nicht, und gleich kommt mein Einsatz“, aber dann, oh Wunder, entdeckte sie das gute Stück, reichte es weiter, und Gerti Kunze konnte ihre Lichterkette entzünden.

Die Zuschauer werden das kleine Drama wahrscheinlich nicht bemerkt haben, vielleicht genauso wenig wie diese Szene aus Gerti Kunzes Anekdotenfundus: In Verdis „Don Carlos“ hatte der Darsteller des König Philipp seinen Degen vergessen. Er sang sich also rückwärts in die Kulisse, ließ sich von einer unsichtbaren Hand die Waffe geben und preschte damit nach vorn, um seinem Sohn Don Carlos zu drohen.

In den 1980er Jahren wurden unter Jean-Claude Riber die Sparten geteilt, und die Statisten, die bis dahin in Oper und Schauspiel gleichermaßen agierten, mussten sich entscheiden, da Auftritte parallel nicht möglich seien. Kunze: „Meine Entscheidung fiel, inzwischen Opernfan, für die Oper.“

Treffen mit Kollo, Moser, Carreras und Co.

In damenhafter Tintenschrift hat sie eine Liste derer aufgeschrieben, denen sie im Haus Am Boeselagerhof begegnet ist. Sie liest sich wie ein Who-is-Who der Opernwelt: René Kollo, Edda Moser, José Carreras, Kurt Moll, Karl Ridderbusch, Agnes Baltsa, Hildegard Behrens. Sie kamen zu Hauptstadtzeiten nach Bonn, als Intendant Riber über einen aus Bundesmitteln üppig gespeisten Etat verfügte, mit dem er solche Stars bezahlen konnte.

Die Musik, speziell die von Richard Wagner, ist Gerti Kunzes große Leidenschaft. Die Bayreuth-Pilgerin gehört den Vorständen der Richard-Wagner-Verbände Köln und Wuppertal an, engagiert sich in der Deutsch-Hispanoamerikanischen Gesellschaft LiberArte Bonn sowie als Vorstandsmitglied beim Verein der Freunde des Schauspiels Bonn. Seit 2011 bringt sie zudem ihre Theatererfahrung in Seminare von Medizinstudenten ein. In der Uniklinik und im Malteser-Krankenhaus mimt sie in Fortbildungsveranstaltungen für angehende Mediziner eine hilflose, manchmal auch renitente Seniorin, die schwer erkrankt ist und der die Studenten im Gespräch vorsichtig beibringen sollen, dass sie in die Palliativstation eingewiesen werden muss oder dass sie doch, bitteschön, eine Patientenverfügung unterschreiben solle. Kunze: „Das ist immer eine besondere Herausforderung.“

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„Ein erfüllendes Leben“

In dieser Saison sieht man sie als Oligarchin, Rentnerin und Pennerin im Musical „West Side Story“ sowie im „Rosenkavalier“, wo sie im dritten Akt als schwarz gekleidete quirlige Alte in einer zweifelhaften Wiener Vorstadtkneipe herumspringt und einen Telefonhörer wirbelt, während der liebestolle Baron Ochs von Lerchenau genasführt wird.

Mit solchen Rollen möge es weitergehen, hofft sie, denn es ist, sagt Gerti Kunze und packt ihre Unterlagen wieder ein, „ein erfüllendes Leben“.

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