LVR-StudieSo mussten Kinder in der Nachkriegszeit in Psychiatrien leiden

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Kinder vor der Kinderpsychiatrie Bonn: Bild aus der Nachkriegszeit (Datum unbekannt)

Kinder vor der Kinderpsychiatrie Bonn: Bild aus der Nachkriegszeit (Datum unbekannt)

Bonn – Es gab viele grausame Geschichten, die die beiden Wissenschaftler Silke Fehlemann und Frank Sparing bei der Aktendurchsicht erfahren musste. Rund 15000 Akten arbeiteten die Historiker der Universität Düsseldorf in nur zwei Jahren durch.

Sie geben ein Bild über die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen in den psychiatrischen Einrichtungen des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) in den Jahren von 1945 bis 1975. Am Donnerstagabend wurde das Buch „Gestörte Kindheiten“ zur vom LVR in Auftrag gegebenen Studie in Bonn vorgestellt. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand die Rheinische Landesklinik für Jugendpsychiatrie Bonn, die nach dem Zweiten Weltkrieg die einzige Kinderpsychiatrie im Land hatte.

Sie fungierte als Gutachter- und Sichtungsinstanz und als Aufnahme- und Verteilzentrum für psychisch kranke Kinder. „Psychopathisch“, „charakterlich abartig“ oder „schwachsinnig“, so lauteten typische Diagnosen über Kinder und Jugendliche. Die Kinder hielten sich hier zwischen sechs Wochen und einem halben Jahr auf, bevor sie an andere Einrichtungen weitergegeben wurden. Aus den Notizen, Zeichnungen, Bildern und Briefen der Kinder und Jugendlichen konnten die Historiker zusammen mit den Krankenakten eine in Teilen grausame Realität für die Patienten rekonstruieren.

„Gewalt war präsent“

„Gewalt war im Leben der jungen Patienten auf allen Ebenen präsent“, erklärt Silke Fehlemann. Die Kinder wurden von ihren Familien isoliert und durch die getroffenen Diagnosen stigmatisiert. Es habe in der Enge der Schlafsäle fast täglich Prügeleien unter den Kindern gegeben. Die Pfleger hätten nur selten eingriffen. Man setzte auf das Recht des Stärkeren, sagt Fehlemann.

Fast drei Millionen Euro an Betroffene gezahlt

670 Menschen haben sich seit 2017 bei der Anlauf- und Beratungsstelle des LVR gemeldet. 300 Betroffene erhielten vom LVR knapp 2,95 Mio Euro, davon dienten zwei Millionen Euro als Anerkennung für erlittenes Unrecht und die Linderung der Folgewirkungen, 950 Millionen Euro dienten als Rentenersatzleistungen. In Bearbeitung seien nun noch 270 Fälle, teilte der LVR mit.

Das Buch „Gestörte Kindheiten“, von Silke Fehlemann und Frank Sparing erscheint im Metropol-Verlag, 224 Seiten, und kostet 19 Euro. (ksta)

Auch die medizinischen Eingriffe waren mitunter grausam. So wurde massenhaft die sogenannte Pneumenzephalographie durchgeführt, bei der die Hirnflüssigkeit aus dem Kopf abgelassen, der Schädelraum mit Luft gefüllt und dann Röntgenbilder angefertigt wurden. „Die Kinder bekamen das natürlich bei anderen mit und hatten große Angst vor diesen Eingriffen“, sagt Fehlemann.

Sie hätten danach starke Schmerzen gehabt und grippeähnliche Symptome gezeigt. Nach 1955 kam es zudem zu einem enormen Anstieg der Neuroleptika-Verordnungen, bei denen es hauptsächlich um die Ruhigstellung der Kinder ging und nicht um eine therapeutische Wirkung. Fehlemann und Sparing sprechen in Bezug auf den Einsatz der Medikamente von „Anzeichen einer kollektiven Vergiftung“. Nicht in Bonn, aber in anderen Kliniken im Rheinland sei es zudem auch zu sexuellem Missbrauch gekommen.

Falsche Diagnosen

Die Diagnosen, die in Bonn nach dem Krieg von Ärzten getroffen wurden, die bereits in Nazi-Deutschland in entsprechender Funktion waren und wie der damalige Leiter der Klinik an Euthanasie-Programmen bis 1945 mitgewirkt hatten, seien auch eine Form von Gewalt gewesen. Die Mediziner hätten die Traumatisierungen der Kinder nicht berücksichtigt. Besonders prägnant sei das Beispiel eines Mädchens, das zugesehen hatte, wie seine Mutter aus dem Fenster sprang, als die Gestapo an der Tür klopfte.

Die Mutter war Jüdin, der Vater seit dem Ersten Weltkrieg Schwerinvalide. Er konnte seine Kinder nicht versorgen, die bei ihm blieben und kaum zu essen hatten. Das Mädchen zeigte schwerste Verhaltensauffälligkeiten. Die Ärzte diagnostizierten, das Kind sei „schwachsinnig und psychopathisch“. „Uns erscheint das heute als eine sehr fragwürdige Beurteilung“, so Fehlemann.

Das Franz-Sales-Haus in Essen oder die Hephata in Mönchengladbach haben ebenfalls viele Kinder aufgenommen. So wird es im Rheinland weit mehr als 15000 Betroffene gegeben haben, vielleicht gar doppelt so viele. In ganz Deutschland könnte es bis 200.000 Betroffene geben, die zu Gewaltopfern in den Psychiatrien wurden. Und das, obwohl die Kliniken Stätten der Hilfe sein sollten. „Wir bitten für das erlittene Unrecht um Entschuldigung“, sagt die LVR-Direktorin Ulrike Lubek. „Solche Zustände wären heute undenkbar“, fügt Margret Schulz, Vorsitzende des LVR-Gesundheitsausschusses, hinzu.

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