„Überall konnte alles passieren“Leiter der Siegburger Studiobühne über die Wende

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René Bötcher

René Böttcher in seinem Theater an der Siegburger Studiobühne. Als 17-Jähriger kam er aus Dresden  in den Westen. 

  • René Böttcher wurde 1979 in Dresden geboren und leitet die Schauspielschule Siegburg sowie das Theater Studiobühne.
  • Aktuell ist er in dem Einpersonenstück „Der Kontrabass“ von Patrick Süskind zu sehen.
  • Böttcher erinnert sich an die Wendezeit in seiner Geburtsstadt Dresden.

René Böttcher aus Dresden ist Leiter der Siegburger Studiobühne. Über sein Leben in der DDR und die Zeit des Mauerfalls sprach er mit Andreas Helfer.

Herr Böttcher, Sie leben seit 22 Jahren im Westen, die Studiobühne, die Sie leiten, ist eine Siegburger Institution. Nervt es Sie, wenn Sie als gebürtiger Dresdner immer noch auf Ihre „Ossi-Vergangenheit“ angesprochen werden?

Überhaupt nicht, ich rede da wahnsinnig gerne drüber. Ich habe einfach einen Erlebnisvorsprung und bin dankbar, dass ich andere Menschen daran teilhaben lassen kann. Wer hier aufgewachsen ist, hat ja nicht diese beiden Systeme erlebt.

Haben Sie den Tag des Mauerfalls in Erinnerung? Sie waren damals noch ein Kind.

Der 9. November 1989 ist mir in Erinnerung wie kaum etwas anders in meinem Leben. Allerdings kamen in dem Jahr mehrere Ereignisse zusammen. Im Sommer habe ich im Fernsehen den so genannten Tankman gesehen, den Mann, der mit zwei Einkaufstüten in der Hand einen Panzer aufgehalten hat.

„Das hat mich umgehauen”

Da war ich zehn, das hat mich umgehauen. Wenige Monate später konnten meine Eltern in den Westen reisen, ich musste als Pfand bei Verwandten in Thüringen bleiben. Die hatten Westfernsehen, das kannte ich als Dresdner aus dem „Tal der Ahnungslosen“ gar nicht. So sah ich, was im Spätsommer alles los war. Dann, als meine Eltern zurück waren, saßen wir weinend vor dem Fernseher, als Leute mit Hämmern und allem möglichen Gerät die Mauer zum Einsturz brachten. Für mich war an diesem Tag im Grunde die Kindheit vorbei. Es war klar, da passiert etwas Entscheidendes.

Haben Sie denn damals wirklich schon verstanden, was da geschah?

Ich habe das sehr gut verstanden. Mein Vater war Konzertpianist, die Stasi, Kollegen, die plötzlich verschwanden, das war schon vor 1989 immer Thema. Auch, dass es einen reicheren, bunteren deutschen Staat gab.

Menschenwürde

Ich wuchs in einem humanistisch geprägten, künstlerischen Haushalt auf, da ging es permanent um Menschenwürde und die Frage, wie man den anderen behandeln sollte. Später war ich mit meinen Eltern bei allen Montagsdemonstrationen dabei und habe selbst für besseres Schulessen demonstriert. Heute demonstriert an der Hofkirche Pegida.

Wie erlebten Sie die folgenden Jahre der Wende?

Die Zeit nach ’89 war in Dresden unglaublich spannend. Jeden Tag veränderte sich etwas in der Stadt. Junge Menschen mit bunten Haaren machten hier eine Kneipe auf oder da ein Fest unter freiem Himmel. Überall konnte alles passieren, Häuser wurden besetzt, in Ruinen wurden Jazzkonzerte gegeben.

Goldene Zeit

Es war laut und dreckig, aber es war eine goldene Zeit. Doch niemand konnte sich vorstellen, wie die Wende alles so radikal, bis in die Familien hinein, verändern würde. Nicht alle schafften den Sprung, gefühlt wurde jeder zweite arbeitslos oder ging in den Westen. Viele Familien zerbrachen daran.

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Sie kamen als 17-Jähriger in den Westen, ans Theater und die Schauspielschule von Wolf Bongôrt von Roy. Wie wichtig waren Ihre Erfahrungen für Ihre Berufswahl?

In der DDR war Kabarett geradezu Volkssport, ich selbst trat schon mit sieben Jahren zusammen mit der Gruppe „Die Pieker“ auf, und als Jugendlicher gründete ich in der Wendezeit die „Sa-Kri-Komiker“, von „sachsenkritischkomisch“. Mein Vater schrieb damals Texte für Kabaretts und gründete selbst auch eine Gruppe.

Nach der Wende

Dann erlebte ich, wie mein Vater vom wohlhabenden freischaffenden Künstler und Konzertpianisten zum Paketboten wurde. Meine Mutter, die als Verkäuferin in einer Drogerie gearbeitet hatte, musste mit verschiedenen Vertreterjobs Geld verdienen. Ich wollte zeitweise Jurist werden, weil ich aufgeschnappt hatte, dass man damit gut verdienen kann. Aber dann schmiss ich das Gymnasium und wurde doch Schauspieler. Mein Vater hatte darauf bestanden, dass ich einen Beruf lerne.

In den sogenannten neuen Bundesländern wird oft beklagt, dass die Leistungen der Menschen nach der Wiedervereinigung nicht anerkannt werden. Können Sie das nachvollziehen?

Hundertprozentig. Dieser Kulturwandel, dieser Transformationsprozess hat alles verändert. Jedes Produkt, das man kannte, war weg. Nahezu jede Arbeitsstelle, sogar die Natur veränderte sich. Das führt zu etwas sehr Spannendem: Wir haben es dort heute mit Menschen zu tun, die keine Scheu vor radikalen Änderungen haben, die veränderungserprobt sind.

Sprengstoff

An dem Punkt wird es gefährlich, wenn sie gleichzeitig die Schnauze voll haben und sich nach Beständigkeit sehen. Das ist ein unglaublicher Sprengstoff. Für die Wahlergebnisse der AfD habe ich keine Sympathie, aber ich kann sie mir erklären.

Wie sehen Sie Dresden heute?

Die Stadt ist völlig zerrissen, in Viertel mit ALG-Empfängern auf der einen und Villenbesitzern und Touristen auf der anderen Seite. Mich wundert nicht, dass da Pegida einen großen Zulauf hat.

Emotional unerträglich

Mich zieht auch nicht viel in die Stadt, weil diese Unterschiede so radikal aufeinandertreffen und ich das emotional nicht ertrage. Ich bin Dresden entfremdet. In Siegburg kann ich etwas gestalten. Dort will ich das gar nicht.

Was haben Sie „von drüben“ in den Westen mitgenommen?

Bei mir ist das Gefühl, dass ich mich stärker behaupten muss als andere, geblieben. Aber der Wende habe ich auch die Erkenntnis zu verdanken, dass alles möglich ist, dass ein Einzelner wie der Tankman sehr viel erreichen kann. In meine Arbeit schleicht sich das Jahr 1989 immer wieder. Ich verstehe Theater als Ort, der Mut machen soll zu gesellschaftlichen Veränderungen. Und Mut, an das Schöne, Gute und Wahre zu glauben.

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