Spektakuläre Ballonflucht aus der DDRGünter Wetzel erzählt Siegburger Schülern

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Wie Kinder in der Schule die Fernseh-Uhr malten, verriet den Lehrern, ob die Eltern Westfernsehen schauten.

Siegburg – Klare Frage, klare Antwort. „Sind wir im Westen?“, so Günter Wetzel. „Ja, wo denn sonst?“, entgegnete der bayerische Polizist. Und erst da war dem Ballonfahrer klar, dass er es tatsächlich geschafft hatte.

Die Reise, die Wetzel, seine Familie und die seines Freundes Peter Strelzyk im September 1979 über den Eisernen Vorhang nach Oberfranken brachte, wurde weltberühmt: Michael (Bully) Herbig brachte sie ins Kino, jetzt berichtete Wetzels Oberstufenschülern des Anno-Gymnasiums von seinen Erlebnissen.

Anhand von Fotos und Grafiken ließ er noch einmal die absurde Paranoia und mörderische Menschenverachtung des Systems DDR lebendig werden, das ihn zur Flucht trieb.

Wetzel, 1955 geboren, stammte aus einem thüringischen Dorf bei Pößneck und erlebte die Zwangskollektivierung vieler bäuerlicher Betriebe, entsprechend schlecht sei die Stimmung gewesen. Mit vielen Beispielen machte er deutlich, wie Spitzelsysteme und politische Kontrolle funktionierten: „Malt doch mal die Fernsehuhr“, habe die Aufgabe im Schulunterricht gelautet.

Brachten die Kinder eine Uhr mit Punkten auf dem Zifferblatt zu Papier, war alles in Ordnung. Bei einem Zeitmesser mit Strichen war dagegen klar: In der Familie wurde Westfernsehen geschaut. FDJ-Kommandos machten sich auf, um die auffälligen Antennen für den West-Empfang zu demontieren. „Als einer von denen vom Dach »gefallen wurde«, hörte das aber wieder auf.“

Zwangsweise die Haare abgeschnitten

Wetzel schilderte anschaulich, wie die Selbstschussanlagen an der Grenze funktionierten und wie er sich bei einem Berlin-Besuch fühlte: „Über diese Mauer wirst du niemals kommen.“ Ein einschneidendes Erlebnis für ihn und viele andere seien die Feierlichkeiten zum 20-jährigen Bestehen des Staats am 7. Oktober 1969 gewesen.

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Der Tag wurde groß begangen und Jugendliche mit langen Haaren zuvor mit Gewalt geschoren. Gängelung und Spitzelsystem waren Wetzel zuwider. Da er nicht in die Partei eintrat, blieb ihm jedes berufliches Weiterkommen verwehrt, so dass er Maurer blieb.

Technikbegeistert, wie er war, machte Wetzel aber „Feierabendarbeit“ als Elektroinstallateur. Dass er damit praktisch zum freien Unternehmer wurde, fiel niemandem auf.

Seinen Freund Peter Strelzyk lernte er zunächst als systemkonformes SED-Mitglied kennen, doch weit gefehlt: Der hielt genauso viel vom Leben im Arbeiter- und Bauernstaat wie er selbst. „Irgendwann war klar, dass wir weg wollen, die Frage war nur wie. Und dass wir mit den Familien fliehen wollten.“

Einem Bericht über Heißluftballons entnahm er, wie er die Stoffbahnen zuschneiden musste, das Material kam zunächst aus einer Taschenfabrik. „Das gehörte ja dem Volk. Also auch uns, das war unsere Einstellung.“ Genäht wurde auf einer alten Maschine mit Fußantrieb. Ein Rahmen für den Korb, die Brenner, alles war selbst gebaut.

Nach einigen gescheiterten Versuchen gelang mit einem Ballon aus zusammengekauften Stoffen die abenteuerliche Fahrt. Für vier Erwachsene und vier Kinder begann ein neues Leben.

Ermöglicht wurde der bewegende wie spannende Vormittag durch den Verein der Freunde und Förderer des Anno- Gymnasiums und das Arbeitnehmerzentrum Königswinter, in dem Wetzel ebenfalls referierte.

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