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„Balu und Du“Eine Mentorin für mehr Gerechtigkeit

Lesezeit 4 Minuten
Anna Nisch (rechts) und Ninelle malen an den Poller Wiesen. Ninelles Mutter wollte nicht, dass man sie auf dem Foto erkennt.

Anna Nisch (rechts) und Ninelle malen an den Poller Wiesen. Ninelles Mutter wollte nicht, dass man sie auf dem Foto erkennt.

Köln – Ninelles Veränderung lässt sich an nur einem Samstagnachmittag beobachten. Beim Kennenlernen ist die Viertklässlerin mit der pinken Pudelmütze noch still, lässt lieber Anna Nisch reden. Die beiden haben erst die Schafe auf den Poller Wiesen bestaunt, die als weiße Tupfer die grüne Wiese abgrasen. Jetzt sitzen sie auf einer der Bänke oben am Weg und malen den Ausblick auf die Kranhäuser und den weit entfernten Dom auf kleine Leinwände. Aber desto mehr Ninelle gefragt wird, desto lebendiger erzählt das Mädchen mit großen Gesten. Vom Flaschen drehen in der Schule und wie sie unter der Woche bei einer Freundin übernachten durfte – und die beiden fast verschlafen hätten. Sie kichert und gestikuliert aufgeregt mit dem nassen Pinsel.

„Das hätte sie Anfang des Jahres noch nicht gemacht“, sagt Anna Nisch, fast stolz. „Ninelle war sehr schüchtern gegenüber Fremden.“ Anna und Ninelle kennen sich über das bundesweite und mehrfach ausgezeichnete Mentorenprogramm „Balu und Du“. Die 32-jährige Anna ist der Balu, Ninelle ist der Mogli – wie im Disney-Klassiker Dschungelbuch. Der große Bär Balu zeigt dem kleinen Waisenkind Mogli, wie das Leben im Dschungel funktioniert.

Gemeinsam durch den Großstadt-Dschungel

Anna und Ninelle erkunden bei ihren wöchentlichen Treffen am liebsten die Stadt, sind gerade seit Beginn der Pandemie hauptsächlich draußen unterwegs. Sie waren schon im Lindenthaler Tierpark, picknicken, auf einem Rheinschiff und im Schokoladenmuseum. „Ninelle ist sehr neugierig und fragt ganz viel. Es macht mir Spaß, mit ihr Sachen auszuprobieren und ihre Fragen zu beantworten“, sagt Anna.

Obwohl Ninelle in Deutz lebt, kannte sie viele der klassischen Kölner Ausflugsziele vorher nicht. Ihre Mutter ist alleinerziehend mit drei Kindern, Ninelle ist die Älteste. Geld und Zeit sind immer knapp. Das Programm richtet sich speziell an Grundschulkinder aus belasteten Familien, oft schlagen Lehrer oder Sozialarbeiter mögliche Teilnehmer vor, die in der Schule entweder zu laut oder zu leise sind, erklärt Suna Celik-Bent vom Ehrenfelder Verein für Arbeit und Qualifizierung. Sie koordiniert die Paare in Köln und ist bei ihrem ersten Treffen dabei. „Wir wollen den Kindern eine neue Welt jenseits von Schule und Fernseher zeigen“, sagt sie über die Initiative.

Ein höherer Bildungsabschluss als die Eltern ist selten

Informelles Lernen nennen Pädagogen den Ansatz, der nachweislich einen sozialen Aufstieg ermöglichen kann. Dieser beginnt in der Regel mit einem höheren Bildungsabschluss als die Eltern ihn haben – und ist in Deutschland nach wie vor selten. Von 100 Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien beginnen 27 ein Studium, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2018. Haben die Eltern einen Hochschulabschluss, sind es dagegen 79 von 100 – die Chance für Akademikerkinder ist also rund dreimal größer.

Die Balus ersetzen keine jahrelange Förderung aus dem Elternhaus. Aber sie zeigen den Kindern Orte, die ihre Eltern womöglich nicht kennen und nebenbei schauen sich die Kinder von den Mentoren ab, wie man sich an diesen Orten selbstsicher und ohne Scheu bewegt. Als Ninelle und Anna im Tierpark sind, fallen ihnen die dicken Hängebäuche der Esel auf. Anna ermutigt Ninelle, die Tierpflegerin einfach anzusprechen und nachzufragen, warum die Tiere eigentlich so dick sind.

Mentorin hat wichtige Vorbildfunktion

Der Erfolg des Programms lässt sich nicht nur an Ninelles gesteigertem Selbstbewusstsein sehen, sondern auch wissenschaftlich nachweisen: Der Bonner Verhaltensökonom Armin Falk hat in einer Studie festgestellt, dass Kinder aus dem Mentorenprogramm später eher aufs Gymnasium gehen als Gleichaltrige mit dem gleichen sozioökonomischen Hintergrund. Die Wahrscheinlichkeit der Moglis steigt um elf Prozentpunkte. Sie verringern somit den großen Abstand zu Kindern aus bildungsbürgerlichen Haushalten, die mit den gleichen Noten viel eher das Abitur anstreben.

Wie lässt sich das erklären? Die Kinder aus dem Programm bekommen mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung, erklärt Falk, und falls nicht, trauen sich die Eltern eher, sich über die Empfehlung der Lehrerin oder des Lehrers hinwegzusetzen. „Eine studierende Mentorin hat für die Kinder eine Vorbildfunktion und bestärkt auch die Eltern“, sagt Falk. In seinen Augen ist die Mentorin, die selbst Abitur hat, eine zusätzliche Ressource, auf deren eigene Erfahrung das Kind zurückgreifen kann. Deshalb ist Falk überzeugt, dass „Balu und Du“ signifikant zur Chancengleichheit beiträgt und von der Politik viel stärker gefördert werden müsste.

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„Wir verschwenden durch unser ungerechtes Bildungssystem ein riesiges Potenzial“, sagt der Ökonom. Ein gerechteres Schulsystem würde nicht nur Kindern aus armen und oft bildungsfernen Familien helfen, sondern letztlich auch der Wirtschaft des Landes gut tun. Ninelles und Annas Beziehung ist eigentlich auf ein Jahr ausgelegt. Aber die beiden haben, ausgebremst von der Corona-Pandemie, zusammen noch viel vor. Kuchen backen und ins Schwimmbad gehen, zum Beispiel. Anna würde den Kontakt auch nach dem Ende des Programms gerne halten. Sie will wissen, wie Ninelles Leben weitergeht.

Mentor werden

Wer Mentor oder Mentorin bei „Balu und du“ werden möchte, kann sich bei Suna Celik-Bent vom Ehrenfelder Verein für Arbeit und Qualifizierung melden. Für die vielen teilnehmenden Jungen werden besonders Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren gesucht. (lis) Telefon: 0221/50 60 92 13 celik-bent@eva-ev.de

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