Alkohol in der Schwangerschaft"Ich vergesse ständig zu essen"

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Köln – "Mein Alltag läuft seit meiner Kindheit nur rund, wenn ich eine feste Struktur habe. Die brauche ich, weil ich  einige Probleme habe.  Zum Beispiel vergesse ich oft, dass ich vor kurzem schon was gegessen habe und esse dann noch einmal. Auch jeden Tag duschen zu gehen, fällt mir  sehr schwer. “

10 000 betroffene Kinder pro Jahr

Etwa jede Stunde wird in unserem Land  ein Kind geboren, das wie Melissa, 17, aus Köln (Textprotokolle),  unter Fetalen Alkoholspektrum-Störungen, abgekürzt:  FASD, leidet. Jährlich sind es 10000 Kinder, so eine Schätzung der Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Damit zählt FASD – verursacht durch Alkoholkonsum der Mütter in der Schwangerschaft – zu den häufigsten Behinderungen von Geburt an. 

„Ich brauche mehr Zeit für Dinge, bin schnell überfordert oder müde und werde dann aggressiv. Manchmal habe ich einen Tag, da schaffe ich alles alleine, jede Einzelheit, weil  ich Lust habe, was zu tun. Aber die meiste Zeit habe ich wenig Lust, was zu machen und vergesse auch viel. Am Wochenende liege ich meistens nur mit dem Handy im Bett. Da fehlt mir die Struktur, aber in der Woche habe ich Termine, zu denen ich meistens überpünktlich erscheine.“

Alltag nicht zu meistern

Matthias Falke kennt die Auswirkungen des Alkoholkonsums  in der Schwangerschaft genau.  Er leitet das Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD in Köln.  „Kinder mit FASD sind für ihr gesamtes Leben geschädigt. Die größten Probleme liegen in der Bewältigung des Alltags. Ein normales Leben in der Gesellschaft ist nur den wenigsten Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD möglich.“ „Freunde hatte ich nie wirklich. Ich wurde sehr lange gemobbt, weil ich anders bin. Ich konnte mir nie erklären, weshalb ich so anders bin. Ich kann alleine aufstehen, mich anziehen und fertig machen für die Schule. Aber ich vergesse dann immer ins Badezimmer zu gehen, Zähne zu putzen, zu duschen und so. Bei sowas bräuchte ich  Hilfe – auch, wenn es ums Geld geht, um Einkäufe, technische Sachen wie  WLAN-Anschluss holen, Laptop kaufen –  Sachen halt, die man fürs Alleinleben können muss.“

Jede dritte Schwangere trinkt

Studien zufolge konsumieren zwischen 14 und 20 Prozent der Schwangeren in Deutschland regelmäßig Alkohol, Expertenschätzungen gehen sogar von jeder dritten Schwangeren aus. Wie viel Alkohol darf eine Schwangere trinken? Die Antwort ist eindeutig: Gar keinen. Denn schon  geringe Mengen können zur Schädigung des Kindes führen. „Über die Nabelschnur wird das Ungeborene mit dem gleichen Alkoholgehalt konfrontiert wie die Mutter, es bleibt aber bis zu zehnmal länger diesem Zellgift ausgesetzt“, sagt  Professor Tamme Goecke, Leiter der Pränatalmedizin und speziellen Geburtshilfe am Universitätsklinikum Aachen.

Starke Entwicklungsstörungen

Die Folgen: Organe, körperliches Wachstum und das Nervensystem des Kindes werden in ihrer Entwicklung stark gestört. Besonders gravierend sind die Schäden des Gehirns und des Zentralen Nervensystems mit Langzeitfolgen für die Wahrnehmung, die kognitiven Fähigkeiten und für die Persönlichkeitsentwicklung.

„Menschen kann ich mich nicht wirklich anvertrauen, neue Menschen kennenzulernen ist sehr schwer für mich, da brauche ich auch noch Hilfe. Mit Menschen klarzukommen klappt auch nicht immer. Ich erwarte, dass Leute normal mit mir umgehen, aber auch akzeptieren, dass ich ausflippe. Ich brauche dann meine Auszeit und dann geht es wieder.“

Unsichtbare Behinderung

FASD ist in der Regel eine unsichtbare Behinderung. Betroffene Kinder und Jugendliche werden häufig ausgegrenzt und haben im Alltag mit gravierenden Handicaps zu kämpfen. Aufgrund ihrer alkoholbedingten Hirnschädigung zeigen sie eine Vielzahl von Entwicklungsstörungen, haben Merk- und Lernschwierigkeiten und eine kaum ausgeprägte Impulskontrolle.  Sie neigen zu sozial unangemessenem Verhalten und Hyperaktivität. Meist können sie aus ihren Fehlern nicht lernen.

Jahre bis zur Diagnose

Sie gelten oft als die vermeintlich schwierige und unerzogene Kinder. Bei vielen dauert es Jahre, bis die korrekte Diagnose FASD gestellt wird. Wenn überhaupt. Oft wird den Kindern oder Jugendlichen zunächst eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADHS oder ADS) attestiert. Durch Unterdiagnostik und Fehlbehandlung besteht die Gefahr, aus notwendigen Hilfen herauszufallen. Menschen mit FASD sind erhöht suizid- und suchtgefährdet. „Das Projekt Husky, eine Schutzstelle für Jugendliche zur Krisenintervention, hat uns erklärt, dass es FASD gibt und dass ich Merkmale zeige. Daraufhin haben wir mich letzten Herbst testen lassen.  Da war ich 16. Mit der Diagnose geht es mir zum Teil sehr schlecht, ich bin auch überfordert. Ich habe jetzt mehr Leute um mich rum, die mir alle helfen wollen, habe mehr Termine und das geht mir  auf die Nerven. Aber auch dass alle meinen, ich wäre ein kleines Kind, was nix schaffen würde ohne Hilfe, nervt ungemein."

Kein Sinn für Gefahren

Kinder mit FASD können sich schlecht in andere hineinversetzen. Sie treten anderen oft zu nahe, haben wenig Gefühl für Nähe und Distanz, verstehen die sozialen Codes nicht, wie Stimmungen, Gesten, Mimik, Körpersignale. Ihren Bezugspersonen folgen sie gerne auf Schritt und Tritt, fordern ständige Beachtung und Rückmeldung, unterbrechen  Gespräche. Dafür sind sie kaum in der Lage, Gefahren einzuschätzen. Diese komplexen Schäden können nur geringfügig durch Therapie und Erziehung ausgeglichen werden. Betroffene Kinder brauchen viel Struktur im Alltag und eine ständige helfende Hand. „Schon seit 16 Jahren lebe ich bei meiner Pflegefamilie. Ich hatte zwischendurch viel Stress mit meinen Pflegeeltern, weil ich so aggressiv war. Deshalb kam ich für ein paar Monate   zu einer anderen Familie. Momentan läuft es aber sehr gut mit meinen Pflegeeltern."

Hilfe für Pflegefamilien

Etwa 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit FASD leben in Pflege- oder Adoptivfamilien. Aufgrund des großen Hilfe- und Beratungsbedarfs wurde vor zwei Jahren das Fachzentrum für Pflegefamilien mit FASD Köln gegründet. Eine Initiative des Jugendhilfeträgers Erziehungsbüro Rheinland gGmbH. Schwerpunkte der Tätigkeit sind – bisher ehrenamtliche –  Beratungs- und Hilfsangebote zum Alltag, sozialrechtlichen Ansprüchen und Diagnosemöglichkeiten. 

Dringend auf Spenden angewiesen

Die Erfahrung von  Matthias Falke: „Viele Pflege- und Adoptiveltern fühlen sich hier zum ersten Mal aufgefangen und können eine positive Perspektive entwickeln. Die Nachfrage ist inzwischen so groß, dass nicht alle Anfragen berücksichtigt werden können.“ Zum Ende des Jahres endet die Förderung, daher ist das Fachzentrum dringend auf Spenden angewiesen. „Mein Plan ist es, irgendwann einmal alleine zu leben und eine Arbeitsstelle zu haben. Mein größter Wunsch? Eine Katze, die mir, wenn es mir schlecht geht, beisteht. Ab Herbst mache ich ein Vorbereitungsjahr im Berufsbildungswerk. Da lerne ich hoffentlich, mit anderen Menschen klarzukommen und andere Dinge, die fürs Arbeiten wichtig sind. Danach kann ich vielleicht eine Ausbildung machen.“ Nur zwölf Prozent der Erwachsenen, die unter FASD leiden, können einem Beruf nachgehen, 70 Prozent können nicht selbstständig leben, die meisten brauchen  lebenslang Unterstützung im  Alltag.

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