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Beratung für traumatisierte Geflüchtete„Der Verein hat mein Leben gerettet“

Lesezeit 4 Minuten
Raha will wegen ihrer Familie anonym bleiben, sie kommt regelmäßig in die Traumaberatung von Linda Bruchholz.

Raha will wegen ihrer Familie anonym bleiben, sie kommt regelmäßig in die Traumaberatung von Linda Bruchholz.

Köln – Für einen kurzen Moment nimmt Raha die Kapuze ihrer pinken Jacke ab. Der Fotograf macht von hinten ein Bild, danach zieht sie sie eilig über ihre langen glatten, fast schwarzen Haare. Und ein bisschen auch über ihr Gesicht. Später erzählt die schüchterne Afghanin, dass ihr Vater zwar mittlerweile akzeptiert habe, dass sie in Deutschland kein Kopftuch trägt. Aber dass sie ihr Haar gar nicht bedeckt, wäre in seinen Augen undenkbar. Wie so vieles, das die 19-Jährige tut und an diesem klirrendkalten Nachmittag im Lockdown-Februar hinter einer Plexiglasscheibe beim Verein Aufwind erzählt.

Raha kommt seit drei Jahren regelmäßig in die Trauma- und Sozialberatungsstelle am Ehrenfelder Helmholtzplatz. Davon dürfen ihre Eltern und ihre acht Geschwister nichts wissen, sagt sie. Deshalb steht in diesem Text auch nicht ihr richtiger Name. Sie sagt auch: „Aufwind hat mir das Leben gerettet.“ Raha meint das nicht pathetisch, sondern wörtlich. Die 19-Jährige kämpft seit Jahren gegen Suizidgedanken an, ist nach sexuellen Übergriffen, die sie nur andeutet, schwer traumatisiert. Im Iran, wo sie bis vor fünf Jahren mit ihren Eltern lebte, konnte sie nie ohne Angst rausgehen, erzählt sie leise.

Viele Geflüchtete haben Schlaf- und Angststörungen

Auf Abstand neben ihr sitzt Linda Bruchholz, Traumatherapeutin für Kinder und Jugendliche. Die Psychologin kennt viele Geschichten wie Rahas. Als die Eltern zu den älteren Geschwistern nach Frankfurt ziehen, hilft Bruchholz Raha, eine eigene Wohnung zu finden, damit sie in Köln bleiben kann. „Wir helfen auf zwei Ebenen: psychologisch-seelisch-emotional und praktisch“, erläutert die Beraterin. Etwa 100 junge Zugewanderte im Alter von zwölf bis 27 kamen in den vergangenen drei Jahren zu ihr und ihren Kolleginnen, manche nur einmal, andere über Monate.

Viele berichten von Schlaf- und Angststörungen. Die Gründe sind naheliegend. Nachts kommen die Bilder der lebensgefährlichen Flucht wieder hoch. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sorgen sich um ihre Familien in der Heimat, haben Angst um ihre Zukunft, weil sie nicht wissen, ob sie in Deutschland bleiben oder abgeschoben werden. Experten gehen davon aus, dass etwa 30 bis 40 Prozent aller Geflüchteten in Deutschland an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. In einer Studie der Krankenkasse AOK geben drei Viertel der Befragten aus Syrien, Irak und Afghanistan an, dass sie Formen von Gewalt erlebt haben, die zu psychischen und physischen Beschwerden führten.

Viel zu wenige Angebote in Köln

„Viele kommen her und sagen: Ich werde verrückt“, sagt Bruchholz. Oft helfe es schon, wenn sie ihren Klienten erklärt, dass körperliche Reaktionen nach einer traumatischen Erfahrung normal sind. „Wir konzentrieren uns auf die praktische Bewältigung des Alltags“, sagt Bruchholz. Wenn jemand wegen Schlaflosigkeit nicht um 9 Uhr morgens fit im Sprachkurs sitzen kann, helfen die Mitarbeiterinnen von Aufwind, nachmittags einen Kurs zu finden. Wenn jemand mehr Bewegung braucht, um sich besser konzentrieren zu können, organisieren die Sozialarbeiterinnen ein Fahrrad.

Solche praxisorientierten Hilfen für traumatisierte Geflüchtete gibt es in Köln viel zu wenig, sagt Claus-Ulrich Prölß vom Kölner Flüchtlingsrat. Zwar können Geflüchtete theoretisch auch zu niedergelassenen Psychotherapeuten gehen, oft wird die Behandlung vom Jobcenter wegen der Kosten aber nicht bewilligt. Für geflüchtete Kinder hat die Kinderpsychiatrie der Kölner Uniklinik seit etwa zwei Jahren eine Spezialambulanz, die Plätze können aber nicht annähernd den hohen Bedarf decken, schätzt Prölß.

Aufwind steht vor dem Aus

Auch Aufwind führt seit jeher eine Warteliste und bangt außerdem gerade um sein weiteres Bestehen. Die Förderung durch Stiftungen – auch „wir helfen“ hat das Projekt bereits unterstützt – läuft im Frühsommer aus. „Wir brauchen dringend finanzielle Unterstützung“, sagt Bruchholz. Eigentlich habe man auf eine dauerhafte Förderung durch öffentliche Gelder gehofft, doch in Folge der Corona-Krise sind die Kassen leer. Wenn Bruchholz keinen Förderer findet, muss Aufwind bald schließen.

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Raha quälen im Moment andere Sorgen. Ihr Vater will, dass sie heiratet. Einen Afghanen, der wiederum nach Deutschland will. Was Raha will, fragt niemand. Würde man sie fragen, wäre es Freiheit. Bruchholz spricht in ihren Beratungsgesprächen auch viel über die deutschen Gesetze. Dass man seine Kinder nicht schlagen darf. Dass eine Frau sich von ihrem Mann trennen kann. Dabei sei sie bemüht, nie zu urteilen. „Ich bin natürlich gegen arrangierte Ehen. Ich könnte aber auch verstehen, wenn Raha irgendwann einwilligt.“ Die Vorstellung, sich zwischen der Familie und den eigenen Wünschen entscheiden zu müssen, sei schrecklich. Eine Entscheidung, die niemand ohne Hilfe treffen sollte.

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