Chancengleichheit"Auch die Armut an Anregung kann Kindern schaden"

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Frau Allmendinger, können Sie anhand einer persönlichen Erfahrung erklären, worum es bei Chancengleichheit eigentlich geht?

Mein Sohn war zu seiner Grundschulzeit mit einem türkischen Jungen und einem Mädchen befreundet, das eine Lese- und Schreibschwäche hatte. Alle taten sich schwer in der Schule, mein Sohn am schwersten von den Dreien. Aber er bekam einen enormen Vertrauensvorschuss, nur weil seine Eltern Akademiker sind. Ihm sagte man, dass Fehler passieren, aber dass er alles schaffen könne. Weder das Mädchen noch der türkische Junge bekamen diesen Zuspruch oder eine andere Art von Förderung. Mein Sohn studiert heute Medizin. Die beiden anderen haben Jobs, die völlig an ihren Möglichkeiten vorbeigehen. Das ist eine traurige Geschichte über verlorene Chancen und verschenkte Potenziale. Darüber, dass Kinder in Verhältnisse hineingeboren werden, und sich der Staat zu sehr zurückhält, um annähernd gleiche Ausgangssituationen, also Chancengleichheit zu schaffen.

Zur Person

Jutta Allmendinger ist Soziologin und prägte den Begriff der Bildungsarmut. Seit 2007 ist sie Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), des größten sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts Europas.

Meinen Sie mit Verhältnissen vor allem finanzielle Armut?

Auch die Armut an Anregungen kann einem Kind das Leben in unserer Gesellschaft schwer machen. Kinder wollen gefordert und müssen gebildet werden. Eltern, die vielleicht beide hart arbeiten müssen, um Geld zu verdienen, kann ich keinen Vorwurf machen, zu wenig Zeit zu haben. In meinen Augen ist der Staat hier gefragt, er muss sich viel mehr einbringen.

Das heißt, Chancengleichheit ist für Sie in erster Linie eine Frage der Bildungspolitik?

Bildung spielt eine große Rolle, ist aber ein vielschichtiges Thema. Wer von Bildung spricht, zielt häufig nur darauf ab, dass Kinder später einen guten Job und ein gutes Einkommen haben. Es geht aber um viel mehr, um Dinge, die für das gesamte Leben wichtig sind. Wir wissen: Geringer gebildete Kinder leben wesentlich ungesünder, nehmen weniger am gesellschaftlichen Leben teil, selbst ihre Lebenserwartung ist niedriger. Sogar auf die Partnersuche hat der Bildungsstand Einfluss.

Wie das?

Wir sehen weltweit den Trend, dass sich Gleichgebildete zusammentun. Der Arzt, der eine Krankenschwester heiratet, ist selten geworden. Das heißt, Bildungsarmut verfestigt sich über Generationen hinweg. Und da sind wir schon beim nächsten Problem: Weniger gebildete Menschen haben kaum Zugang zu Netzwerken. Sie kennen insgesamt weniger Menschen und weniger Menschen, die aus anderen Milieus stammen. Das ist bei besser Gebildeten anders. Dabei sind Netzwerke äußerst wichtig. Nicht nur bei der Jobsuche, sondern auch im Alltag. Wir haben kürzlich Menschen gefragt, wem sie den Schlüssel geben würden, wenn sie mal weg wären. 13 Prozent der weniger Gebildeten sagten, dass sie niemanden hätten. Das sagten bei den besser Gebildeten nur zwei Prozent. Eine Kleinigkeit, die aber nachdenklich stimmt.

Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Schulerfolg ist hierzulande so hoch wie nirgends. Hat das auch damit zu tun, dass es selbst in den Schulen diese Durchmischung nicht mehr gibt?

Zum Teil. Die Klassen sind in der Tat nicht mehr so heterogen. Stadtteile riegeln sich ab, selbst die Kitas sind heute nicht mehr so sozial durchmischt wie früher. Das ist fatal für jene Kinder, die die Hilfestellung anderer Kinder brauchen. Gerade in Köln ist in den vergangenen Jahren die soziale Segregation stark angestiegen. Und der Anteil der Kinder, die in benachteiligten Quartieren wohnen, ist relativ hoch in der Stadt. Von Chancengleichheit kann unter diesen Umständen keine Rede sein. Wir brauchen eine Stadtentwicklungsplanung, die das soziale Miteinander an die erste Stelle setzt.

Mit Unterschieden leben

Die Grundschulen sollen allen Kindern wenigstens die gleichen Basiskompetenzen beibringen, sind aber damit überfordert. Was läuft außer der genannten Segregation noch schief?

Unsere Studien zeigen in der Tat: Der Leistungsunterschied, den es zwischen Kindern aus gut gebildeten Haushalten und jenen aus benachteiligten Familien zu Beginn der Schulzeit gibt, verringert sich nicht während der Grundschulzeit, sondern verdoppelt sich sogar. Wir brauchen schlichtweg mehr Zeit, mehr Zuwendung für die Kinder. Wir verteilen sie zu früh auf die verschiedenen Schularten. Durch systematische Vergleiche können wir zeigen: Eine Trennung nach der sechsten Klasse bringt eine wesentlich größere Chancengleichheit mit sich als eine Trennung nach der vierten Klasse. Und auch das ist wichtig in Punkto Durchmischung zu wissen: Die Guten bleiben gut, die weniger Guten werden besser. Es gibt sehr wenige Länder auf der Welt, die die Kinder in der Schule so früh trennen wie Deutschland.

Aber Kinder und Jugendliche werden selbst bei gleicher Leistung je nach Herkunft unterschiedlich behandelt. Wie sollen junge Menschen mit einem solchen Stigma umgehen?

Kinder und Jugendliche reagieren darauf, wie alle stigmatisierten Menschen, denen man nichts zutraut. Sie verinnerlichen dieses Urteil. Sie sagen sich, dass andere halt besser sind. Das ist fatal in einer Gesellschaft, die so viel Anpassungsfähigkeit erwartet. Die so Stigmatisierten gehen nicht in die Offensive und versuchen, sich selbst Dinge beizubringen. Sie tun lieber nichts, immer in dem Irrglauben, dass sie es sowieso nicht könnten. Daraus kann sich ein Fatalismus entwickeln, der sich durchs ganze Leben zieht.

Müsste dann nicht schon vor der Schule etwas getan werden?

Ja. Wir müssen sehr viel mehr Geld in die Hand nehmen, um Flüchtlinge, Migranten und arme Kinder auch vorschulisch zu fördern – nicht mit einer Schule von acht bis fünf, sondern spielerisch. 15 Prozent aller Kinder sind bildungsarm, und diesen Anteil könnten wir tatsächlich reduzieren. Es ist eine Katastrophe, dass wir das nicht tun. Dabei wissen wir, wie viel gezielte Zuwendung durch Pädagoginnen und Pädagogen bewirken kann. Unsere Bildungsarmut ist ein Staatsversagen.

Es gibt nun vorherrschende Ungleichheiten allein durch die Einkommens- und Vermögensverteilung, die sich durch Bildungspolitik auch nicht abbauen lassen.

Ja, aber wir können doch daraus etwas Positives ziehen! Das hohe Vermögen könnte für den Bildungsbereich genutzt werden. Wir müssten die Steuerpolitik stärker darauf ausrichten. Wieso nicht verpflichtend Bildungspatenschaften einführen, deren Anzahl man bei der Steuererklärung angeben kann? Es gibt so viele Menschen, denen ein solcher Beitrag nicht wehtun würde.

Mit welchen Unterschieden müssen wir am Ende einfach leben?

Dass der Staat für ähnliche Ausgangslagen sorgen soll, heißt nicht, dass alle dieselben Bildungsergebnisse erreichen können. Das ist nicht möglich. Dafür sind die Menschen zu unterschiedlich. Aber dass man viele Kinder sich selbst überlässt, gibt Anlass zu großer Sorge, Unverständnis, gar Wut. Wie können Politiker den Mangel an sozialem Zusammenhalt beklagen, den sie selbst verursachen? Weit mehr als ein Zehntel aller Menschen in Deutschland sehen für sich nicht die Möglichkeit, sich mit anderen auszutauschen: Sie trauen es sich nicht zu und nehmen an, dass die anderen an einem Austausch kein Interesse haben.

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