Harte Kritik an Schule„Wir werden zu Fördermuttis gemacht – und unter Druck gesetzt”

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Schule Symbolbild

Ist die Schule so angelegt, dass Mütter in Teilzeit Nachhilfe gegen müssen, damit das System funktioniert?

  • Studien belegen: Eltern in Deutschland fühlen sich von der Schule zu stark als Hilfslehrer eingebunden.
  • Das wirkt sich nicht nur negativ aufs Familienleben aus, sondern stärkt auch die soziale Ungleichheit. Kinder, deren Eltern sich den Förderaufwand nicht leisten können, sind benachteiligt
  • Um ihre Kinder zu unterstützen, arbeiten vor allem Frauen Teilzeit und bleiben weit hinter ihren beruflichen Möglichkeiten
  • Das muss sich dringend ändern, sagt Anke Willers in ihrem neuen Buch „Geht's dir gut oder hast du Kinder in der Schule?”. Ein Gespräch.

Frau Willers, geht’s Ihnen besser, seitdem Sie nur noch ein Kind in der Schule haben? Anke Willers: Ja, es war zwar ein wildes erstes Halbjahr: Ein Abitur, eine Mittlere Reife. Aber nun sind alle Prüfungen vorbei – und auch die Anspannung, von der man sich auch als Mutter nicht ganz befreien kann. Vor allem dann nicht, wenn man wie ich viele Jahre als Hilfslehrerin unterwegs war.

Auch wenn Sie, wie Sie in Ihrem  Buch schreiben, den Kampf um Zensuren als furchtbaren Stress empfanden: Darf ich Sie trotzdem um  eine Note für Ihren Job als Hilfslehrerin bitten?

Fachlich würden mir meine Kinder wahrscheinlich eine Zwei geben – jedenfalls bis zur Mittelstufe. Dann begannen die Lücken: Die Feinheiten des Zitronensäurezyklus und der Kurvendiskussion hat man einfach vergessen, wenn die eigene Schulzeit 30 Jahre zurückliegt. In den Fächern »Zuversicht« und »Empathie« allerdings habe ich höchstens eine Vier verdient. Meine Geduld war zu gering, die Augenroll-Frequenz zu hoch, wenn meine Töchter nicht so schnell kopfrechnen konnten wie ich oder wenn sie neue Dinge nicht gleich verstanden – ich vergaß dabei auch gerne, dass ich bestimmte Inhalte zum x-ten Mal in meinem Leben  wiederholte, während sie zum ersten Mal etwa von adverbialen Bestimmungen hörten.

Offen gestanden beneide ich Sie ja ein bisschen darum, dreimal zur „Schule gegangen“ zu sein. Ich habe die meisten Dinge aus dem Physik- oder Mathe-Unterricht leider vergessen. Mein Mathewissen genügt, um damit durchs Leben zu kommen. Auf Integrale und Vektoren habe ich heute einfach keine Lust mehr. Sie glauben gar nicht, wie sehr sinnfreie Lesebuch-Geschichten über den Backmeister Bimbam langweilen. Da gäbe es anderes, das ich gerne lernen würde. Aber es geht ja nicht um meine Satisfaction. Das wahre Problem: Wir haben unseren Kindern eine sehr nahe und emotionale Bindung, die nicht förderlich ist für den  Hilfslehrerinnen-Job. Wenn meine Töchter nach der dritten  Erklärung etwas nicht kapiert haben, hat mich das wütend gemacht. Oft hat es mich auch verunsichert: Wie kann es sein, dass MEIN Kind derart auf der Leitung steht? Das spürt das Kind natürlich. Die Angst, der Mutter nicht zu genügen, blockiert. In Lernsituationen ist es für Kinder und Eltern irre schwer, diese Gefühle zu unterdrücken. Und irre  anstrengend.

Schlimmer noch als anstrengend:  Sie schreiben,  dass Sie die Schule den letzten Nerv und den Familienfrieden gekostet hat. Ist das vielleicht ein wenig  kokettiert? Kein bisschen! Mein Mann hat beim Lesen des Buches gemeint: Du hättest ruhig noch deutlicher werden dürfen! Fakt ist: Es gab viele Tage, an denen die Schule wie ein Familienklimakiller wirkte. Weil wir uns beim Lernen gestritten haben oder weil Noten trotz Lernerei schlecht waren und alle enttäuscht. Die Niedergeschlagenheit hat sich manchmal über unserer Familie ausgebreitet wie ein dunkles Tuch. Meine Kinder waren ja keine Schulversagerinnen, ihnen ist es nur schwerer gefallen. Heute denke ich: Wir haben den Familienfrieden zu häufig der Schule geopfert. Was ich besonders schlimm fand: Ich habe durch die Schule einen defizitären Blick auf meine Kinder entwickelt. Auch wenn es irrational ist: Ich habe die Schulprobleme persönlich genommen und dachte: Ich mach als Mutter doch was falsch. Gleichzeitig empfinden auch die Kinder schlechte Noten oft als Bewertung ihrer Person. Das alles war schwer auszuhalten.

Zur Person

Anke Willers ist Leitende Redakteurin bei „Elternfamily“ und Buchautorin. Zuvor war sie Textchefin der Zeitschrift „Eltern“ und hat als Kolumnistin über ihren Familienalltag geschrieben. Sie ist verheiratet, hat zwei Teenager-Töchter und pendelt zwischen München und Hamburg.

Warum haben Sie den Hilfscoach-Job dann nicht einfach an den Nagel gehängt? Als meine erste Tochter eingeschult wurde, war ich fest davon überzeugt: Schule ist Kinder- und Lehrersache, da haben sich die Eltern nicht einzumischen. Ich sah es pragmatisch, hätte schwören können, niemals so eine Fördermutti zu werden. Aber schon  nach einem halben Jahr  war  ich voll  drin in der Rolle und dachte: Meine Töchter schaffen das nicht ohne mich! Dabei ging es mir nicht darum, sie mit Biegen und Brechen aufs Gymnasium zu hieven. Unsere Schulkultur setzt inzwischen voraus, dass wir Eltern uns kümmern. Wozu ich sogar in den Grundschulzeugnissen explizit aufgefordert wurde, wenn es darin etwa hieß: »Auch Zuhause sollte Ida beim Schreiben an die Abfolge der einzelnen Schritte erinnert werden. Und das Einmaleins muss noch intensiver eingeübt werden«.

Literatur

„Geht’s Dir gut oder hast Du Kinder in der Schule?“ heißt Anke Willers aktuelles Buch, das im Juli  im Heyne-Verlag (14,99 Euro) erschienen ist. Darin beschreibt sie gemeinsam mit Experten, warum Schule so kompliziert ist und wie man sich ein Stück Gelassenheit zurückholt.

Ist das Ihr  persönlicher Eindruck oder ist es Fakt, dass unsere Schulkultur die Eltern zu pädagogischen Handlagern macht? Die Kultusministerien würden das wohl bestreiten. Und auch die Lehrer sagen oft: Die Kinder sollen das alleine machen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Hinter vorgehaltener Hand würden die meisten von ihnen zugeben, dass die Hilfe vom Elternhaus für sehr viele Kinder entscheidend ist für den Schulerfolg und dass die, die keine Hilfe bekommen, im Nachteil sind. Es gibt auch schöne Untersuchungen,  wie »Eltern-Lehrer-Schulerfolg«-Studie, in denen Eltern quer durch die Republik bestätigen: Die Schule bindet sie ungefragt ein und sie fühlen sich moralisch unter Druck gesetzt, sich für die Schulbelange ihrer Kinder zu engagieren. Eltern, die sich dem entziehen, stehen also unter enormen Rechtfertigungsdruck. Hinzukommt für uns Eltern ein  Prioritäten-Dilemma: Wer kein Selbstläuferkind hat, muss sich entscheiden: Will ich etwas für gute Noten und damit für die Zukunftschancen meines Kindes tun – oder will ich ihm eine schöne Kindheit  ohne ständiges Gelerne und ein harmonisches Familienleben gönnen? Das ist kaum zu lösen.

Haben Sie auch diese Ratgeber im Regal, die Eltern beibringen, wie man Schulstoff vermittelt? Die habe ich aus Protest nicht gekauft. Damit drehen wir Eltern ja weiter an der Spirale. Auch wenn ich mich informiert und viel geholfen habe, war mir  immer klar, gerade Letzteres ist pädagogisch falsch: Wenn wir  die Stoffe erklären, die unsere Kinder in der Schule nicht verstanden haben und ständig ihre Fehler ausbügeln, dann erkennen die Lehrer die Defizite ihrer Schüler nicht – oder dass sie etwas ungenügend erklärt haben. Außerdem befeuern diese Bücher  die soziale Ungerechtigkeit, weil sie Kinder, deren Eltern sich diesen Förderaufwand aus zeitlichen oder sonstigen Gründen nicht leisten können,  benachteiligen. Die OECD kritisiert immer wieder, dass in kaum einem Land Europas der Schulerfolg so stark vom Elternhaus abhängt wie bei uns und unser Schulsystem soziale Ungerechtigkeiten verstärkt.

Sie gehen noch weiter und sagen: Unsere Schulkultur hemmt die Emanzipation – Eine steile These ... Mütter werden öfter von Lehrern angesprochen als Väter, arbeiten nach der Geburt häufiger Teilzeit  und bleiben dann viele Jahre dabei, um ihre Kinder in der Schule zu unterstützen. Sie ziehen sich auch eher den Schuh an, die Verantwortung für den Schulerfolg der Kinder zu tragen. So gesehen fordert ausgerechnet das Bildungssystem, das in den frühen 70er Jahren dazu beigetragen hat, erstmals Mädchen gut auszubilden, nun von erwachsenen Frauen so viel Einsatz bei der Unterstützung ihrer Kinder, dass viele  Frauen weit unter ihren beruflichen Möglichkeiten bleiben. So werden alte Rollenbilder zementiert.

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Ist daran allein das Schulsystem Schuld, sind es die unselbstständigen Kinder oder gar die bildungspanischen Eltern? Es gibt nicht nur eine Ursache. Auch ist die Frage , wer zuerst da war: die fördernden Eltern oder die Schulkultur, die sie immer mehr einbindet, kaum zu beantworten. Das hat sich wahrscheinlich gegenseitig hochgeschaukelt. Klar wäre es schön, wenn nicht nur die privaten Schulen ganzheitlicher auf die Talente eines Kindes schauen würden. Ich hätte mir für meine Töchter etwa  gewünscht, dass schriftliche und mündliche Noten gleich viel zählen. Das ist Gold wert für Kinder, die Prüfungsangst haben, aber gut sind im  Vortragen und Präsentieren. Der Hauptgrund für den Stress ist aber, dass Bildung für uns Mittelstandseltern eine immer größere Bedeutung gewonnen hat. 

Woran liegt das? Der Soziologe Heinz Bude erklärt das so: Die meisten von uns haben heute kaum mehr Besitz zu vererben, keinen Hof, keine Firma.  Das wichtigste, was wir unseren Kindern mitgeben können, ist Bildung. Dabei nimmt die Schule besonders doppelt erwerbstätigen Eltern nichts ab. Im Gegenteil: Wir spüren einen zunehmenden Leistungsdruck und fühlen uns mit dem zusätzlichen Erziehungsstress alleine gelassen. Schön auf den Punkt bringen das die Autoren der erwähnten Studie. Sie sagen: Bildung bedeute für uns Mittelstands-Eltern nicht mehr in erster Linie: Damit können meine Kinder aufsteigen, sondern: Damit verringern wir ihr Risiko, abzusteigen. Früher gab es eine Bildungschance, heute gibt es eine Bildungspflicht.  Wie gut wir diese erfüllen, zeigen – vermeintlich – die Zeugnisse unserer Kinder.

Was hat Sie ihr Hilfslehrerinnenjob gelehrt? Gibt es Tipps, wie man dem  Druck begegnet? Zu verstehen, warum Schule für uns Eltern eine so große Bedeutung hat und dass wir mit unserer Erwartungshaltung dazu beitragen, andere Schulformen neben dem Gymnasium abzuwerten, ist der erste Schritt, sich gegen die Vereinnahmung als Hilfslehrkraft zu wehren.  Mir hat eine neue Jobsituation sehr geholfen. Als meine Große 13 war, musste ich zeitweise in einer anderen Stadt arbeiten, konnte nicht mehr mitlernen. Sie hat es dann allein versucht. Erst holperte es und es war schwer, das zu sehen und sich rauszuhalten. Für mich war es aber auch ein Lehrstück in Sachen Vertrauen: Ich musste mir immer wieder sagen, dass sie ihre Rille schon finden wird. Ganz wichtig finde ich,  dass wir wenigstens versuchen, den Druck phasenweise  rausnehmen. Mit Familienzeiten, in denen Schulthemen tabu sind und Situationen, in denen unsere Kinder ihre Talente demonstrieren können – Erfolgserlebnisse außerhalb der Schule machen stark und stolz. Und heilen manche Fünf! 

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