Hilfe an der Boje27-Jähriger verliert durch Corona Job und Wohnung

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Mit 18 Jahren wurde Kevin, der eigentlich anders heißt, das erste Mal obdachlos.

Mit 18 Jahren wurde Kevin, der eigentlich anders heißt, das erste Mal obdachlos.

Köln – „Und dann kam Corona.“ Ein Satz, der die Dramaturgie vieler Schicksale der letzten zehn Monate vorgibt. Es war alles gut. Oder vielleicht nicht gut, aber zumindest irgendwie okay. Dann ging ein Virus um die Welt und zerstört seitdem Menschenleben, Existenzen oder Beziehungen. Bei Kevin* ruiniert die Pandemie einen Neustart. Er zog im Februar 2020 weg aus Köln, in eine andere Stadt, hatte dort Arbeit als Piercer in einem Tattoo-Studio gefunden und eine Wohnung in Aussicht.

Und dann kam Corona. Das Tattoo-Studio musste auf unbestimmte Zeit schließen. Der neue Arbeitgeber sagte ihm ab. Ohne Gehalt konnte Kevin die Kaution nicht zahlen und verlor die Wohnung. Nun sitzt der schlaksige 27-Jährige neun Monate später an einem nebligen, kalten Freitagmittag in der Boje am Breslauer Platz. „Am 1. April war ich wieder hier, mit nichts“, sagt er, grinst entschuldigend und wärmt sich die steifen Hände an einer Teetasse.

Treffen an der Boje gehen nur mit Abstand vor dem Bus

Die Boje ist ein umgebauter Linienbus, betrieben vom Sozialträger „Auf Achse“, der drei Stunden täglich Hilfe für junge Wohnungslose anbietet. Auch in der Boje hat das Coronavirus den Alltag verändert. Das Angebot ist als warmer und sicherer Zufluchtsort gedacht. Die jungen Wohnungslosen konnten im Bus zusammensitzen, ihr Handy laden, das Internet kostenlos benutzen, mit den Mitarbeitern reden. Das geht jetzt nur noch mit Abstand vor dem Bus, wo gerde ein schneidender Wind über den trostlosen Busbahnhof zieht und am stillgelegten Musical Dome zehrt. „Ich komme trotzdem lieber hierher, als stundenlang ziellos von A nach B zu laufen“, sagt Kevin.

„Auf Achse“ berät in einem umgebauten Linienbus der KVB seit vielen Jahren junge Wohnungslose.

„Auf Achse“ berät in einem umgebauten Linienbus der KVB seit vielen Jahren junge Wohnungslose.

Er ist dorthin zurückgekehrt, wo er vor neun Jahren das erste Mal Hilfe bekam. Er flog mit 18 Jahren Zuhause raus – „ich hab viel Scheiße gebaut, Diebstahl und so weiter und so fort“ – und lebte zwei Jahre auf der Straße. Solange kennen er und Boje-Mitarbeiterin Martina Schmitt sich schon. Wenn er seine Geschichte erzählt, ergänzt sie Details. Wenn sie nach der Situation auf der Straße gefragt wird, gibt sie die Frage an Kevin weiter. Sie sagt: „Kevin ist ein alter Hase. Der weiß, wie es läuft.“

Über 6000 Menschen in Köln haben keine Wohnung

Es läuft so, dass Kevin wieder Sozialleistungen beantragen musste. Die Stadt erklärt sich erst nicht zuständig, weist ihm dann doch einen Hotelplatz zu. Eine Woche bleibt Kevin dort. „Man schläft mit Wildfremden auf einem Zimmer und muss Angst haben, dass am nächsten Morgen Handy und Portmonee weg sind.“ Über 6000 Menschen ohne Wohnung lebten laut einer Erhebung 2019 in Köln. Wie alt sie sind und warum sie keine feste Bleibe haben, wird nicht erfasst. Den Anteil der Unter-18-Jährigen schätzt die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe deutschlandweit auf acht Prozent. Das wären für Köln etwa 500 wohnungslose Kinder und Jugendliche. Die Zahl der jungen Erwachsenen schätzen Experten höher ein, weil viele mit spätestens 21 Jahren nicht mehr auf die Angebote der Jugendhilfe zählen können.

Sie schlafen nicht immer auf der Straße, sondern kommen oft bei Freunden oder in Notunterkünften unter. Dort wird kaum zwischen jungen Wohnungslosen wie Kevin, psychisch Kranken und Drogenabhängigen differenziert. Sie müssen sich den spärlich bemessenen Raum teilen. „Menschen, die ohnehin haltlos sind, kommen dort nicht gut klar“, sagt Schmitt.

Boje-Mitarbeiterin Martina Schmitt

Boje-Mitarbeiterin Martina Schmitt

Kevin nimmt keine Drogen, sagt er. Er stopft seine Wertsachen nachts in den Kissenbezug, findet einen Aushilfsjob als Lagerist und einen neuen Schlafplatz in einem Resozialisierungsprojekt. „Wenn du schon einmal in dieser Lage warst, weißt du auch, wie du wieder rauskommst.“

„Vielen siehst du es nicht an“

Den anderen jungen Wohnungslosen am Bus muss Schmitt das Hilfesystem erst erklären. Zwischen 20 und 40 Menschen kommen täglich zur Boje. Schmitt und ihre Mitarbeiter begleiten die Klienten auch zu Behördenterminen. „Wir übersetzen zwischen den Mitarbeitern im Amt und den Jugendlichen“, erklärt sie. „Gerade die jungen Menschen sind oft sehr gepflegt und der Gegenüber versteht nicht, dass sie tatsächlich auf der Straße sitzen und die Lage ernst ist.“ Das Klischee vom verwahrlosten Obdachlosen.

Obwohl Kevin früher monatelang in einer Gruppe Punks rund um Barbarossaplatz und Zülpicher Platz im Schlafsack übernachtete, duschte er regelmäßig und wusch seine Klamotten. „Vielen siehst du es eben nicht an“, sagt er. Was nicht heißt, dass keine Spuren bleiben. Kevin will eine Therapie machen, um das Erlebte zu verarbeiten. Aber erst einmal: Ein paar Monate arbeiten, dann eine eigene Wohnung suchen. Wieder einen Neustart versuchen.

*Name von der Redaktion geändert

Die B.O.J.E. (Beratung und Orientierung für Jugendliche und junge Erwachsene) wird vom Verein „Auf Achse“ mit dem Gesundheitsamt betrieben und vom Sozialamt unterstützt. Auch „wir helfen“ hat jahrelang den Aufbau und die Erweiterung der Beratungsstelle am Breslauer Platz begleitet.

Die jugendlichen Besucher bekommen in der Boje Getränke und Lebensmittel. Zur Gesundheitsprävention werden auch kostenlose Kondome und Einwegspritzen angeboten. Zweimal pro Woche ist ein Arzt und eine Krankenschwester des mobilen medizinischen Dienstes vor Ort.

Das Projekt „Boot“ bietet außerdem individuelle Begleitung zu Ämtern und bei der Wohnungssuche an.

Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag, 14 bis 17 Uhr, Freitag 10 bis 13 Uhr. (lis)

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