Interview mit PsychotherapeutinJeder dritte Jugendliche von Essstörungen betroffen

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Viele Betroffene einer Essstörung leiden im Stillen.

Viele Betroffene einer Essstörung leiden im Stillen.

  • Der soziale Druck auf Jugendliche ist groß. Immer öfter drückt sich das in Essstörungen aus.
  • Stephanie Lange ist Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Essstörungen.
  • Im Interview erklärt sie, wie sich Magersucht, Bulimie und Ess-Attacken entwickeln und was die Familie tun kann.

Köln – Stephanie Lange (51) ist Mitarbeiterin der Beratungsstelle „FrauenLeben“ und Psychotherapeutin mit eigener Praxis, arbeitet seit vielen Jahren mit dem Schwerpunkt Essstörungen. Mit ihr sprach Dirk Riße.

Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts leidet inzwischen jeder dritte Jugendliche unter Essstörungen, wie erklären Sie sich diese Zunahme?

Es wird immer mehr Wert auf den Körper gelegt, der soziale Druck ist immens. Viele Jugendliche gucken sich morgens schon nach dem Aufstehen im Internet ihre Stars an – und sind sofort unzufrieden mit ihrem eigenen Körper.

Besonders betroffen sind Mädchen und junge Frauen.

Bei ihnen ist oft das Aussehen und der Blick von außen wichtiger. Sie werden viel mehr betrachtet und bewertet. Jungen können sich über Sport, Leistung im Beruf oder Coolness definieren.

Magersucht ist eine der häufigsten Essstörungen. Die Betroffenen fühlen sich dick, obwohl sie untergewichtig sind.

Magersucht kommt oft bei Mädchen vor, meist zu Beginn der Pubertät, wenn sich der Körper verändert. Dann gibt es eine Phase der großen Verunsicherung. Die Mädchen haben Angst, erwachsen und attraktiv zu werden. Der magere Körper, der ein Stück weit kindlich und androgyn ist, hat für sie eine hohe Attraktivität.

Viele magersüchtige Frauen sind die besten Schülerinnen, leistungsstark, machen ein herausragendes Abitur. Sie setzen aber auch ihren Körper unter Leistungsdruck und haben das Gefühl: Wenn ich schon nichts im Leben schaffe, dann wenigstens meinen Körper zu kontrollieren.

Eltern sollten gutes Vorbild sein

Welche Rolle spielen die Familien?

Gut ist es, wenn die Eltern möglichst unkompliziert mit ihrem eigenen Körper umgehen, eine gute Verbindung zum eigenen Körper, eine gewisse Sportlichkeit und eine gute Ernährung haben. Häufig erlebe ich, dass sich die Mütter zu dick fühlen. Dann beginnen sie mit ihren Töchtern eine gemeinsame Diät. Die Mütter hören auf, die Töchter nicht – und rutschen in eine Magersucht.

Essstörung Nummer zwei ist die Bulimie, in der die Betroffenen Ess-Attacken ausgesetzt sind, dann aber die Kalorien wieder ausspeien.

Unter einer Bulimie leiden oft normalgewichtige Frauen. In der Regel sind die Mädchen etwas älter, oft 17 bis Anfang 20. Mädchen und junge Frauen, die in die Bulimie rutschen, sind ebenfalls unzufrieden mit ihrem Körper, haben aber Probleme im Umgang mit Gefühlen. Oft haben sie nicht gelernt mit Emotionen wie Leere, Langeweile, Schuldgefühlen, Angst, Traurigkeit oder Wut umzugehen. Dann entsteht ein innerer Spannungszustand. Und um die Emotionen nicht zu fühlen, essen sie sich dumpf. Weil sie nicht zunehmen wollen, erbrechen sie sich, nehmen Abführmittel oder treiben über die Maßen Sport.

Was ist eine Binge-Eating-Störung?

Die Betroffenen leiden unter Ess-Attacken, schaufeln kalorienreiches Essen in großen Mengen in sich hinein, erbrechen sich aber anschließend nicht, wie die Bulimikerinnen. Daher sind diese Frauen oft übergewichtig. Die Binge-Eating-Essstörung ist aber zu unterscheiden von der Fettleibigkeit, die sich langsam einschleicht. Man isst zu viel und nimmt nach und nach zu, was aber nicht unbedingt etwas mit einer Gefühlsregulation zu tun hat.

Essstörungen haben Folgen

Welche körperlichen Folgeerkrankungen lösen Essstörungen aus?

Der Körper kann lange Zeit etwas abfedern. Irgendwann geht die Erkrankung aber auf das Herz und die inneren Organe. Weitere Folgen sind Magen-Darm-Probleme, Sodbrennen, geschwollene Drüsen und Zahnschäden. Beim Binge-Eating können noch Gelenkprobleme, Bluthochdruck und Diabetes hinzukommen.

Die psychischen Folgen sind nicht minder gravierend.

Vor allem bei der Magersucht haben die Betroffenen lange Zeit keinen Leidensdruck, weil sie den Krankheitsgewinn, also dass sie den Körper unter Kontrolle haben, als positiv empfinden. Daher besteht für sie keine Notwendigkeit, sich Hilfe zu holen. Irgendwann lässt vor allem bei Magersüchtigen die Leistungsfähigkeit nach. Die Betroffenen fühlen sich erschöpft und depressiv. Bei der Bulimie und dem Binge-Eating ist es anders. Beide Erkrankungen sind mit Scham besetzt. Die Betroffenen haben hohen Leidensdruck, oft kommt auch eine Verschuldung hinzu, weil die vielen Nahrungsmittel sehr ins Geld gehen.

Wie wirken sich die Essstörungen auf das soziale Umfeld aus?

Die Betroffenen leiden lange im Verborgenen, weil sie sich nicht trauen, Hilfe zu holen. Geselligkeit besteht oft aus Anlässen, bei dem man miteinander isst. Das ist für die Betroffenen schwer durchzustehen, weshalb sie solche Anlässe meiden. Sie laufen daher Gefahr, sich zu isolieren, zu vereinsamen und depressiv zu werden.

„Es gibt seit Jahrzehnten zu wenig Fachkräfte“

Wann sollten nahestehende Menschen hellhörig werden?

Zum Beispiel, wenn es große Gewichtsschwankungen gibt. Wenn Betroffene extrem viel Sport machen oder sich auf einmal sozial zurückziehen. Bei Magersüchtigen: Wenn sie viel für andere kochen, aber nicht mitessen. Wenn die Betroffenen oft vor dem Spiegel stehen, sich immer wieder wiegen. Manche tun das bis zu 50 Mal am Tag. Mitunter werden Lebensmittel abgewogen oder als verboten erklärt. Bei Bulimie: Wenn Lebensmittel verschwinden und auf der Toilette Spuren von Erbrochenem zu sehen sind.

Was dann?

Es ist gut, sich fachliche Hilfe zu holen. Als Frauenberatungsstelle stehen wir sowohl betroffenen Frauen als auch ihren Angehörigen zur Seite. Schwer ist es, die Betroffenen mit ihrer Erkrankung zu konfrontieren. Am besten ist es, zu sagen: Ich habe was mitbekommen und ich mache mir Sorgen. Wir wollen, dass du das professionell abchecken lässt. Diese Hilfe sollte aber möglichst schnell eingeholt werden. Wenn eine Essstörung erst einmal fünf Jahre lang besteht, wird es immer schwieriger, die Betroffenen da rauszuholen.

Empfinden Sie die Hilfsstruktur in Köln als ausreichend?

Definitiv nicht. Es gibt seit Jahrzehnten zu wenig Fachkräfte, die sich mit dem Thema auskennen. Es ist ein bundesweites Problem. Wir haben in Köln die einzige angeleitete Gruppe für erwachsene Frauen mit Essstörungen. Unsere Warteliste ist ellenlang. Insgesamt kommen etwa 900 Frauen pro Jahr in die Beratungsstelle, wir haben 2000 Beratungsgespräche, bei einem Drittel davon geht es um Essstörungen. Die Deckungslücke ist enorm.

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