Kinder als Missbrauchsopfer vor GerichtWie ein weiteres Trauma verhindert werden soll

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KInder, die vor Gericht als Opfer von Gewalt aussagen, haben einen Rechtsanspruch auf kostenlose Begleitung. (Symbolbild)

KInder, die vor Gericht als Opfer von Gewalt aussagen, haben einen Rechtsanspruch auf kostenlose Begleitung. (Symbolbild)

Köln – Das Interesse am Prozess gegen Jörg L. war riesig. Viele Journalisten reisten im vergangenen August nach Köln, um über das größte Verfahren wegen sexueller Gewalt an Kindern in der Geschichte der Bundesrepublik zu berichten. Der 43-jährige Mann aus Bergisch Gladbach wurde zu zwölf Jahren Haft verurteilt, weil er immer wieder seine 2017 geborene Tochter missbraucht haben soll.

Er gilt als Schlüsselfigur eines riesigen Netzwerkes pädokrimineller Männer. 30 000 mögliche Tatverdächtige und Milliarden Datenträger, auf denen Unvorstellbares festgehalten wurde, zählt die Polizei. Die Opfer kommen in der Berichterstattung kaum vor. Sie werden geschützt und abgeschirmt. Wie geht es für Kinder, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, nach dem ersten Verdacht weiter? Ein Kommissar und eine Prozessbegleiterin geben Auskunft.

Bei der Polizei

„Das, was die BAO Berg bei Ermittlungen zu Missbrauchsfällen aufgedeckt hat, hat Menschen, die hier schon länger arbeiten, nicht überrascht“, sagt Andreas Dick, Leiter des Kriminalkommissariats 12 der Kölner Polizei, kurz KK 12. Das KK 12 beschäftigt sich ausschließlich mit Sexualdelikten und sexuellem Missbrauch, die rund 20 Beamten des Kommissariats verhören mindestens ein bis zwei Mal wöchentlich mutmaßliche minderjährige Opfer. Spricht man mit Dick, wird schnell klar: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder ist keine gesellschaftliche Randerscheinung, die sich auf einige Horrormeldungen beschränkt.

Das Anhörungszimmer für Kinder sei wie ein Spielzimmer eingerichtet, erzählt Dick am Telefon, damit die Kinder sich möglichst wohlfühlen und sich trauen, mit ihm zu sprechen. Ab dem Alter von vier bis fünf Jahren spricht der Kriminalkommissar mit möglichen Opfern, bei kleineren Kindern sei er auf die Aussagen der Eltern angewiesen. Die Kinder selbst müssen möglichst nur einmal zur Polizei, um die Tat nicht wieder und wieder zu durchleben.

Doch mindestens einmal müssen sie das. Wenn Dick sie freundlich ansieht und sagt: „Du weißt ja, warum du hier bist. Dir ist etwas passiert.“ Und dann wartet er, ob der Junge oder das Mädchen erzählt. Suggestive Fragen vemeiden er und seine Kolleginnen und Kollegen, sonst kann die Aussage in einem späteren Gerichtsprozess nicht verwendet werden. „Manche Kinder sind verstockt, andere reden gleich los“, sagt Dick. Viele schämen sich, weil sie denken, sie hätten etwas falsch gemacht.

„Manche begreifen erst bei der Polizei, was man ihnen jahrelang angetan hat“

Die schlimmsten Fälle sind in den Augen des Kommissars, die, bei denen die Kinder in der Familie jahrelang missbraucht wurden und gar nicht wissen, dass ihnen Unrecht geschieht. Weil der Missbrauch zum Familienalltag gehört. Weil die Täter sie mit Geschenken bestechen und zur Verschwiegenheit verpflichten. „Manche begreifen erst bei der Polizei, was man ihnen jahrelang angetan hat.“ Sie weinen und schreien in der Vernehmung, Dick muss möglichst sachlich bleiben. „Das ist manchmal schwer zu ertragen.“

Schwierig sei es für die ermittelnden Beamten auch, wenn der Vorwurf des Missbrauchs in einem Sorgerechtsstreit zwischen den Eltern aufkommt. Wenn die Mutter den Vater beschuldigt zum Beispiel. „Oft ist die Mutter aufgeregt und redet auf uns und ihr Kind ein. Wir müssen dann herausfinden, was wirklich passiert ist – und was dem Kind vielleicht in den Mund gelegt wurde“, sagt der Polizist.

Vor Gericht

Wenn Antje Lachmann beauftragt wird, ein Kind in den Gerichtssaal zu begleiten, dann wurde nach der Vernehmung bei der Polizei ein Hauptverfahren eröffnet. Das vermeintlich missbrauchte Kind muss als Zeuge aussagen und die Tat vor Gericht erneut schildern. Lachmann arbeitet seit 15 Jahren beim Kinderschutzbund Leverkusen und ist seit drei Jahren psycho-soziale Prozessbegleiterin. Ihre Aufgabe: Sie tut alles, damit das Kind durch den Prozess kein zweites Trauma erleidet.

Lachmann informiert das Kind und die Eltern vorher über die Abläufe im Verfahren und ist am Tag der Verhandlung dabei. „Die meisten Kinder wollen auf keinen Fall den Beschuldigten sehen“, erzählt Lachmann am Telefon. Viele hätten vor der Verhandlung Angst, dass der Richter ihnen nicht glaubt oder dass sie sich nicht mehr erinnern. Lachmann erklärt, dass sie den Täter höchstens zu Beginn der Verhandlung kurz sehen müssen und macht ihnen Mut, ehrlich zu sein, wenn sie etwas nicht mehr wissen.

Seit 2015 haben Gewaltopfer unter 18 Jahren den Rechtsanspruch auf eine kostenlose Begleitung im Verfahren. Vor einer Gerichtsverhandlung sollen die Kinder nicht zu einem Therapeuten, um die Erinnerung nicht zu verfälschen, sagen Juristen. Viele Kinder können nicht schlafen und haben Schwierigkeiten in der Schule, sagt Lachmann und versucht zu helfen. Bis zur Hauptverhandlung im Gerichtssaal kann es zwei Jahre dauern. In Lachmanns Augen ein viel zu langer Zeitraum. Sie unterstützt die Kinder solange bei der Bewältigung des Alltags, bespricht mit den Eltern Therapiemöglichkeiten für die Zeit nach der Verhandlung. Mit dem Kind über die Tat sprechen darf sie nicht.

Fälle innerhalb der Familie sind die Schwierigsten

Der Prozesstag ist für das Kind extrem aufwühlend. Lachmann empfiehlt, dass das Kind nur zur Zeugenaussage in den Saal geht und ihn danach wieder verlässt. Vorher wartet sie mit dem Zeugen oder der Zeugin möglichst in einem separaten Raum, bringt Spielsachen oder etwas zu lesen mit. Ähnlich wie für Kommissar Dick sind auch für die Prozessbegleiterin die Fälle, in denen die sexualisierte Gewalt innerhalb der Familie stattfindet, die schwierigsten. Oft sei die Familie gespalten, nicht alle Angehörigen stellen sich automatisch hinter das kindliche Opfer. „Manche sagen: Du willst unsere Familie zerstören.“

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Es sei auch immer sehr belastend für die Kinder, wenn der Täter freigesprochen wird, weil die Tat zu lange zurückliegt und nicht mehr bewiesen werden kann. Deshalb wünscht sich Lachmann von der Justiz schnellere Verfahren ohne lange Wartezeit. Außerdem sollten Prozessbegleiter öfter eingebunden werden. „Die Möglichkeit wird bei Verfahren um sexualisierte Gewalt noch viel zu selten genutzt.“

So können Sie helfen

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit unsere Kinder vor Gewalt geschützt werden“ bitten wir um Spenden für Projekte, die sich für ein friedliches und unversehrtes Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in unserer Region einsetzen.

Die Spendenkonten lauten:

„wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“

Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155

Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225

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