Kinderarmut in der Region"Diese Kinder fühlen sich wie Fremde im eigenen Land"

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Arm zu sein bedeutet oft auch abgehängt, ausgegrenzt und einsam zu sein.

Arm zu sein bedeutet oft auch abgehängt, ausgegrenzt und einsam zu sein.

Noch oft bezweifelt, immer wieder bewiesen: Kinderarmut macht sich auf der deutschen Landkarte breit, manifestiert sich, wird zum Dauerzustand. Jedes fünfte Kind verlässt hierzulande morgens ohne Frühstück sein Zuhause. Jedes fünfte Kind ist auch in unserer Stadt, im wahrsten Sinne des Wortes, arm dran. Ein warmes Mittagessen, den Zoo besuchen oder einem Verein beitreten ist für diese Kinder genauso wenig drin wie eine unbeschwerte Kindheit. Ihr Alltag ist geprägt von Verlust und Scham, Vernachlässigung und Sorge – ohne Zukunft und ohne Zuwendung. Das Kölner Ehe- und Forscherpaar Christoph und Carolin Butterwegge hat sich intensiv mit Kinderarmut beschäftigt.

In einem reichen Land von Kinderarmut zu reden, so die gängige Meinung, sei respektlos gegenüber den wirklich notleidenden Kindern dieser Welt. Worüber reden wir genau, wenn wir von Kinderarmut in Deutschland sprechen?

Christoph Butterwegge Ganz klar, Armut sieht in Köln anders aus als in Kalkutta, weshalb wir den Begriff der relativen Armut verwenden. Er besagt: Arm ist, wer deutlich weniger zur Verfügung hat, als die Mehrheit der Gesellschaft für normal hält. Das kann deprimierender und demütigender sein, als das Schicksal in einem armen Land mit vielen anderen zu teilen. Slumbewohner müssen sich ihrer Umwelt gegenüber nicht dafür rechtfertigen, dass und warum sie arm sind.

Carolin Butterwegge Knapp 23 Prozent der Kölner Minderjährigen, also mehr als 37000 und damit jedes fünfte Kind unter 18 Jahren ist davon betroffen, dass es sich vieles von dem nicht leisten kann, was für die meisten seiner Altersgenossen selbstverständlich erscheint. Arm zu sein ist hierzulande also mehr, als wenig Geld zu haben. Es bedeutet auch, am sozialen, kulturellen und politischen Leben nicht teilnehmen zu können, ausgegrenzt zu sein.

Die Zahlen sind erschreckend, aber sie zeigen nicht die wirklichen Auswirkungen von Armut. Warum leiden Kinder besonders stark darunter?

Christoph B. Schwer zu ertragen ist für sie, dass sie wegen ihrer Armut gemobbt werden. Weil sie sich nicht die hippe Hose, das neuste Handymodell oder einen Kirmesbesuch leisten können. Ausgelacht zu werden, weil man im Winter Sommerkleidung trägt, kann grausamer sein, als die Kälte zu spüren. Hinzu kommt, dass Kinder dem Druck der Werbeindustrie und der Gleichaltrigen stärker unterworfen sind als Erwachsene, die das eher kritisch hinterfragen können.

Trotz der alarmierenden Zahlen hält sich der Grundkonsens, dass arm ist, wer nichts zu essen hat und Lumpen trägt. Warum wird die Armut vor unserer Haustüre gerne verneint?

Carolin B. Sie ist oft erst auf den zweiten Blick sichtbar, wird selten zur Kenntnis genommen. Aber auch in Köln gibt es immer mehr Kinder, die ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können, ohne Frühstück oder Mittagessen bleiben, keine Winterkleidung haben und viel zu beengt leben. Und da melden Eltern ihr Kind in Ganztagseinrichtungen mit der Begründung vom Essen ab, dass es ihm nicht schmecke, obwohl ihnen in Wahrheit der eine Euro dafür fehlt.

Weil sie ihr (Kinder-)Geld lieber für Alkohol oder Fernseher ausgeben?

Christoph B. Alle Untersuchungen zeigen: Eltern wollen, dass es ihren Kindern bessergeht als ihnen selbst. Sie würden ihr letztes Hemd geben, damit ihr Kind keinen Mangel leiden muss. Das ist beinahe ein Urinstinkt. Der alkoholisierte Vater, der sein Geld lieber in einen Flachmann und einen Flachbildschirm steckt, ist ein Einzelfall. Es scheint ein automatischer Reflex zu sein, den Armen seit Jahrhunderten vorzuwerfen, sie ließen ihre Kinder verwahrlosen.

Carolin B. Und ein Scheinargument, mit dem vertuscht werden soll, dass das Problem der Armut in der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen liegt und eben nicht das selbstverschuldete Problem der Betroffenen ist. Studien zeigen, dass der Hauptgrund für die Verwahrlosung von Kindern der Stress oder eine psychische Störung ihrer Eltern ist. Gesunde Eltern, ob arm oder reich, kümmern sich um ihre Kinder.

Welche Auswirkungen hat das Argument der selbstverschuldeten Armut auf betroffene Kinder?

Carolin B. Wenn die gängige Meinung ist, dass die Schuld der Armut bei den Eltern zu suchen ist, weil sie Faulenzer, Drückeberger oder Sozialschmarotzer sind, dann übernehmen Kinder diese Schuldzuweisungen der Gesellschaft und fühlen sich als Versager. Kinder spüren genau, was es bedeutet, arm zu sein und merken, dass sie als Arme ausgegrenzt werden. Sie schämen sich dafür, wenn sie etwa im Zoo den Köln-Pass vorzeigen müssen oder in der Schule eine grüne statt einer blauen Essenmarke, die sie als arm stigmatisiert.

Was sind dagegen die Hauptgründe für Kinderarmut ?

Christoph B. Was die Eltern arm macht, macht auch die Kinder arm: zum Beispiel die Entwicklung eines breiten Niedriglohnsektors – dem inzwischen fast ein Viertel aller Beschäftigten angehört. Auch die neuen Lebens- und Liebesverhältnisse, auf die unser Sozialstaat nicht eingestellt ist, spielen eine Rolle. Über vierzig Prozent aller Alleinerziehenden beziehen Hartz IV; wenn sie mehrere Kinder haben, sind es 60 Prozent.

Wo zeigt sich Kinderarmut? Und was bedeutet das für die Stadt?

Carolin B. Innerhalb von Köln variiert die Kinderarmut stark zwischen den Stadtbezirken, Stadtteilen und Veedeln – zum Beispiel von 0 Prozent in Hahnwald bis 58 Prozent in Finkenberg. Die Not ist lokal unterschiedlich verteilt und spaltet die Stadt mehr und mehr in arme und reiche Wohngebiete. Das wirkt sich auf die Lebenswelten der Kinder aus. In den ärmeren Gebieten fehlt es oft an genügend kostenlosen Betreuungs-, Bildungs- und Freizeitangeboten, an positiven Vorbildern und an Spendern. Die kommerziellen Angebote können sich arme Kinder nicht leisten, dafür reichen die Hartz IV-Kinderregelsätze nicht aus.

Christoph B. Studien belegen, dass sie nicht einmal ausreichen, um Kinder gesund zu ernähren, ihren Kalorienbedarf zu decken. Andere Zuschüsse etwa zu Klassenfahrten oder einem Mittagessen kommen bei den Kindern nicht an, weil die Eltern davon nichts wissen, die bürokratischen Hürden des Bildungs- und Teilhabepaketes zu hoch sind oder es in ihrem Veedel kein Mittagstisch gibt.

Kinderarmut gefährde den sozialen Frieden, warnen Sie, und viele weitere Armutsforscher tun es auch.

Christoph B. Wenn ein wachsender Teil der künftigen Generation abgehängt ist, keine Chancen, keine Perspektiven und damit auch keinen Mut hat, den man braucht, um sein Leben zu gestalten, wächst die Gefahr von Aggressivität und Kriminalität.

Was ist zu tun, um Kinderarmut einzudämmen?

Carolin B. Wir plädieren für vier Gs: einen höheren gesetzlichen Mindestlohn, damit Familien sich genug leisten können, um ihre Kinder nicht in Armut aufwachsen zu lassen; eine flächendeckende Ganztagsbetreuung, damit Kinder etwa von in Vollzeit beschäftigten alleinerziehenden Eltern auch am Nachmittag ein Bildungs- und Freizeitangebot erhalten; Gemeinschafts- und Gesamtschulen, wo Kinder benachteiligter Familien bessere Bildungschancen erhalten, weil sie nicht sofort in Haupt- oder Förderschulen aussortiert werden; und eine bedarfsgerechte, armutsfeste Grundsicherung.

Christoph B. Nötig ist auch ein neues Armutsbild, das sich nicht an der Armut früherer Zeiten oder an der Armut anderer Länder orientiert. Es hätte zu berücksichtigen, wie Armut heute – in Reaktion auf den Wohlstand, der die Betroffenen und ihre Kinder umgibt – erlebt wird – und könnte damit auch Mitgefühl und Solidarität erzeugen. Weil es zeigt: Arme Menschen fühlen sich wie Fremde im eigenen Land, minderwertig und gedemütigt – und damit auch sehr einsam.

Was bedeutet Armut in Deutschland? Zahlen, Fakten und Konzepte

Von absoluter Armut Betroffene haben nicht genug Mittel zur Verfügung, um ihre lebenswichtigen Grundbedürfnisse zufriedenzustellen. Menschen, die weniger als einen Dollar und weniger pro Tag haben, gelten als absolut arm. Das betrifft weltweit rund 1,2 Milliarden Menschen.

Unter relativer Armut versteht man eine Unterversorgung an materiellen und immateriellen Gütern und eine Beschränkung der Lebenschancen – im Vergleich zum Wohlstand der jeweiligen Gesellschaft. Wer relativ arm ist, hat weniger als die meisten anderen. Es geht um die ungleiche Verteilung von Chancen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

In Deutschland gilt als relativ arm, wer über maximal 50 Prozent des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) verfügt. Man unterscheidet auch zwischen einem „Armutsrisiko“ (60 Prozent des Medianeinkommens, also rund 1600 Euro) und einer „strengen Armut“ (40 Prozent des Medianeinkommens). Laut EU ist arm, wer weniger als 60 Prozent besitzt.

2016 lebte jeder achte Deutsche unterhalb der Armutsgrenze. Der Anteil der minderjährigen Kinder und Jugendlichen, die von Armut betroffen oder bedroht waren lag bei 20,3 Prozent – das sind 2,7 Millionen von 13,5 Millionen Minderjährigen.

In Köln sind rund 37 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Armut betroffen oder bedroht, das sind 23 Prozent aller Kölner Minderjährigen.

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