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Kölner Kinderklinik„Situation für Kinder und Jugendliche ist katastrophal”

Lesezeit 7 Minuten
Dr. Maren Friedrich in der Kinderschutzambulanz

Dr. Maren Friedrich in der Kinderschutzambulanz

  • Tausende Kinder werden jährlich Opfer von Gewalt, Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch.
  • Das medizinische Team der Kinderschutzambulanz muss KInder sogar Kinder vor dem Verhungern retten.
  • Armut, soziale Isolation und psychische Erkrankungen sind bedeutsame Risikofaktoren für Gewalt in der Familie.

Köln – 2019 starben 152 Kinder an Misshandlungen, 5000 Kinder wurden misshandelt und mehr als 17 000 wurden Opfer von sexueller Gewalt. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?

WALTZ: Historisch gesehen nehmen die Zahlen ab. Noch im letzten Jahrhundert war körperliche Gewalt ein anerkanntes Mittel der Pädagogik. Erst seit Kurzen ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung gesellschaftlich anerkannt. Unsere Gesellschaft hat also schon dazugelernt. Die Dinge bessern sich, es ist aber noch viel zu tun.

Aber die jüngsten Zahlen sind wiederum gestiegen.

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WALTZ: Das stimmt. Die Zahlen sind von 2019 auf 2020 gestiegen. Da wird Corona eine Rolle gespielt haben. Die Situation für Kinder und Jugendliche ist in der Pandemie katastrophal, Schule, Sport, Freizeitaktivitäten mit Freunden sind praktisch zum Erliegen gekommen. Auch die Eltern sind belastet. Insbesondere Familien mit eingeschränkten Ressourcen sind belastet, ein erhöhtes Risiko für Kindesmisshandlung ist die Folge.

Warum hat das Kinderkrankenhaus eine Kinderschutzambulanz eingerichtet?

WALTZ: Wir hatten den Kinderschutz bereits im stationären Bereich. Das hat eine lange Tradition und wird auch kompetent gemacht. Es kommen aber auch immer wieder Kinder mit dem Verdacht auf Kindesmisshandlung oder mit dem Verdacht auf Vernachlässigung in die Notfallambulanz. Dort ist aber die Zeit knapp, und daher können dort komplexe Fragestellungen nicht ausreichend beantwortet werden. Deshalb haben wir die Kinderschutzambulanz eingerichtet. Einmal, um diagnostische Fragen zu klären und auch Anfragen des Jugendamts zu beantworten. Zum anderen, um Kinder, die wir stationär aufgenommen hatten, nachzuverfolgen, zu begleiten und so vor weiteren Misshandlungen zu schützen.

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Wie viele Fälle nehmen Sie auf?

WALTZ: Dieses Jahr haben wir etwa 35 Kinder in der Kinderschutzambulanz betreut. Hinzu kommen etwa 100 Kinder, die stationär aufgenommen werden mussten.

Wie kommen die Kinder zu Ihnen?

WALTZ: Tatsächlich kommen viele über die Notaufnahme mit akuten Verletzungen, mit Verbrühungen oder Verbrennungen. Es schicken aber auch die Kinderärzte Kinder zu uns, wenn Sie Anzeichen für Kindesmisshandlung sehen. Manchmal gibt auch das Verhalten der Kinder Anlass zur Sorge, zum Beispiel kann sexualisiertes Verhalten auf sexuellen Missbrauch hinweisen. Zum Teil kommen Kinder auch über das Jugendamt, wenn dort eine Abklärung gewünscht ist, etwa weil Schule oder Kindergarten gemeldet haben, dass das Kind verhaltensauffällig ist.

Zur Person

Professor Stephan Waltz ist Ärztlicher Leiter der Kinderneurologie und des Sozialpädiatrischen Zentrums des Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße. Dr. Maren Friedrich (39) leitet als Oberärztin die Zentrale Notaufnahme des Kinderkrankenhauses. (ris)

Welche Expertise kommt in der Ambulanz zusammen?

FRIEDRICH: Es kommen mehrere Fachbereiche zusammen. Ich leite als Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin die zentrale Notaufnahme und bin Kinderschutzmedizinerin. Meine Kollegin, Dr. Birte Mack-Detlefsen, ist geschäftsführende Oberärztin der Chirurgie und Kinderurologin. Wir beide haben uns im Bereich der Kinder- und Jugendgynäkologie weitergebildet. Das Team wird verstärkt von einer Psychologin, dem Sozialdienst und der Kinderkrankenpflege. Es ist wichtig, die Fälle gemeinsam zu besprechen, um ein ganzheitliches Bild zu bekommen. Oft sind es Fälle, bei denen nicht einfach zu erkennen ist, ob es sich um Misshandlung handelt. Wir besprechen daher viele Fälle mit der Rechtsmedizin der Uniklinik Köln. Wir arbeiten auch eng mit dem Jugendamt zusammen, das letztendlich entscheidet, ob eine Gefährdung des Kindes vorliegt. Kann das Kind in der Familie bleiben oder sollte es besser herausgenommen werden?

Was sind typische Fälle, die Sie behandeln mussten?

FRIEDRICH: In meinem Bereich dominiert das Thema sexueller Missbrauch. Die Kinder werden vom Kinderarzt überwiesen oder dem Jugendamt vorgestellt. Manchmal wenden sich auch die Familien direkt an uns mit der Frage, ob sexuelle Gewalt vorliegt. Es gibt auch Anfragen zu Verhaltensauffälligkeiten der Kinder. Bei Frau Dr. Mack-Detlefsen geht es eher um akute Verletzungen wie Verbrühungen, Verbrennungen und Knochenbrüche.

Kind kurz vor dem Verhungern

Ist während des Lockdowns die Gewalt an Kindern gestiegen ist?

FRIEDRICH: In der Phase des Lockdowns sehen wir weniger Fälle. Das liegt mit Sicherheit daran, dass die Kinder zu Hause bleiben. Die Kontakte sind eingeschränkt, Schulen und Kindergärten haben weniger Zugriff auf die Kinder. Mit Ende des Lockdowns sehen wir wieder vermehrt Kinder. In der ersten Welle war das erschreckendste Beispiel ein Kind, dass mit fünf Jahren das Gewicht eines Einjährigen hatte. Das Kind hatte im Lockdown an den Vorsorgeuntersuchungen nicht teilgenommen, hatte nicht den Kindergarten besucht. Es kam in Begleitung des Jugendamtes zu uns und war am Verhungern. Es wurde stationär aufgenommen und mit viel Zuwendung versorgt.

Ein Beispiel für Vernachlässigung. Wie äußert sich diese noch?

WALTZ: Das Offensichtlichste ist die mangelnde Ernährung. Manche Kinder erhalten keine angemessene Kleidung oder medizinische Betreuung. Sie erhalten einfach nicht die notwendigen Untersuchungen oder Behandlungen. Vernachlässigung kann auch emotional stattfinden. Das gibt es in allen Schichten. Dort, wo die Kinder mangels Alternativen einfach vor den Fernseher gesetzt werden, aber auch in akademischen Familien mit zwei berufstätigen, ehrgeizigen Eltern, die keine Zeit für die Kinder haben. Es ist schwierig, das zu erkennen und etwas zu tun.

Gewalt kommt in allen Schichten vor

Kommt denn Gewalt gegen Kinder in bestimmten Milieus häufiger vor als in anderen?

WALTZ: Gewalt gegen Kinder kommt in allen Schichten vor. Armut, soziale Isolation und psychische Erkrankungen sind bedeutsame Risikofaktoren. Diese Familien sind mit schwierigen Erziehungssituationen schneller überfordert. Daher kommt Gewalt gegen Kinder gehäuft in Familien vor, in denen die Belastung der Eltern am höchsten ist und die Ressourcen am geringsten sind.

Wie stellen Sie fest, ob es sich bei einem Bluterguss wirklich um eine Misshandlung handelt?

WALTZ: Wenn ein Kind im Alter von zwei Jahren mit auffälligen Blutergüssen oder Verletzungen kommt, sprechen wir mit den Eltern und Fragen, wie ist die Verletzung zustande gekommen? Findet sich keine passende Erklärung, nehmen wir das Kind zur Ursachenklärung stationär auf. Dann folgt eine ganze Serie an Untersuchungen. Der Augenarzt guckt auf das Kind, es werden ein Ultraschall von Gehirn und Bauch sowie Röntgenuntersuchungen von den Knochen gemacht. Und es werden viele Gespräche geführt, etwa am Runden Tisch mit dem Jugendamt, und dann kommt man zusammen zu einem Ergebnis. Aber in manchen Fällen weiß man nicht sicher, ob eine Misshandlung vorliegt. Dann geht es darum, den Familien Hilfen zur Verfügung zu stellen. Unser Ziel ist es, dass sich Gewalt nicht wiederholt.

Ambulanz ist auf Spenden angewiesen

Wie wird die Kinderschutzambulanz finanziert?

WALTZ: Die Kinderschutzambulanzen werden im System der gesetzlichen Krankenversicherungen nicht finanziert. Das hat viele Gründe. Das System beruht auf Überweisungen, aber bei Kindesmisshandlungen können wir nicht erst eine Überweisung einfordern, bevor wir tätig werden. Das Angebot muss niederschwellig sein, so dass Eltern, Kinder und Betreuende einfach kommen können. Wir, wie auch andere Kinderschutzambulanzen sind auf Drittmittel, besonders auf Spenden angewiesen. Wir danken auch unserem Förderverein und dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW, die uns unterstützen. Einen Teil müssen wir aus unserem Budget finanzieren. Wir haben keine Fachkräfte, die nur in der Kinderschutzambulanz tätig sind. Frau Dr. Friedrich und Frau Dr. Mack-Detlefsen übernehmen die Ambulanz zusätzlich zu ihren bisherigen Aufgaben.

Wie können Nachbarn, Erzieher oder Lehrer erkennen, ob ein Kind misshandelt wird?

WALTZ: Körperliche Misshandlung kann man an Verletzungen erkennen. Aber auch an der Stimmung der Kinder. Misshandelte Kinder haben häufig einen ganz besonderen traurigen Blick, der als „eingefrorene Wachsamkeit“ bezeichnet wird. Die Schläge sieht man ihnen an, sie führen zu Depression und Traurigkeit. Vernachlässigung ist in Schule und Kindergärten auch zu erkennen. Kommen die Kinder mit Brot und Getränk, kommen sie in angemessener Kleidung, kommen sie überhaupt regelmäßig? Gibt es klare Erklärungen, warum sie nicht kommen? Welche Möglichkeiten haben sie an Ausflügen teilzunehmen, in welchem Zustand kommen sie?

Was können überforderte Eltern tun?

WALTZ: Das ist eine wichtige Frage. Suchen Sie Unterstützung und fordern Sie Hilfe ein! Es gibt in Köln viele niederschwellige Beratungsstellen der Stadt, der Kirche und auch freier Träger, in denen Familien beraten und unterstützt werden. Das Jugendamt bietet belasteten Familien viele Hilfen an und man kann sich immer an seinen Kinderarzt wenden.

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