Nummer gegen KummerDie Sorgen los

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Das Telefon klingelt im kleinen, lichtdurchfluteten Büro in der Leverkusener Bracknellstraße 32. Am anderen Ende der Leitung ist ein Mädchen. Verzweifelt,  16 Jahre alt. Im Staccatostil erzählt sie, dass ihr Onkel sie sexuell missbraucht. Sie habe sich der Mutter anvertraut, doch die glaube ihr nicht, sagt, sie soll keine Lügen erzählen. „Er kommt, ich muss auflegen“, flüstert sie noch, dann ist die Leitung tot. 

Am Apparat bleibt Susanne H. (Name geändert) zurück. Machtlos, denn an diesem Punkt kann sie nichts mehr tun. Sie weiß nicht, wie das Mädchen heißt, wo sie wohnt, von welchem Anschluss aus sie anruft. Die Displays der Telefone sind abgeklebt. Anonymität ist das oberste Gebot der „Nummer gegen Kummer.“ Das zweite Gesetz: Die Anrufer müssen die Hilfe von den Beraterinnen und Beratern konkret einfordern. Kommt es während des Telefonats nicht dazu, können ihnen die „Nummer gegen Kummer“-Mitarbeiter nicht weiterhelfen,  keine Anlaufstellen nennen, keine weiteren Lösungsvorschläge unterbreiten.

Alleine und viel zu früh in die Schule geschickt

Wenige Sekunden später klingelt das Telefon erneut. Ein sechsjähriges Mädchen beklagt sich, dass seine Mutter zu rigoros sei. „Sie schlägt mich nicht, aber sie ist zu streng.“ „Warum?“, fragt Susanne H.  „Ich muss immer um halb sieben aufstehen und viel zu früh in die Schule gehen, wenn außer mir noch niemand da ist.“ Als sie in den Kindergarten ging, sei das nicht so gewesen, erzählt sie auf Nachfrage. „Weil Mama da noch nicht arbeiten musste.“

Susanne H. verwickelt das Mädchen in ein Rollenspiel, um ihr so die  Situation der  Mutter erklären zu können. Die Sechsjährige findet im Laufe des Gesprächs durch die neu erhaltene Perspektive Verständnis und  ist erleichtert – weil sie  ihre Mutter  nun verstehen kann. Das Gespräch endet lachend. „Man weiß nie, was einen erwartet, wenn das Telefon klingelt“, sagt Sabine Golien von der „Nummer gegen Kummer“ in Leverkusen.  Es geht um kleine und große Probleme –  von der Fünf in Mathe, einem Streit mit den Eltern oder Freunden, bis hin zu Mobbing oder sexuellem Missbrauch.

Nummer gegen Kummer

Erreichbarkeit des Kinder- und Jugendtelefons: 116 111 oder 0800/111 0 333, Montag bis Samstag von 14–20 Uhr; Elterntelefon: 0800/111 0 550, Montag bis Freitag  9–11 Uhr, Dienstag und Donnerstag von 17–19 Uhr.

Beide Nummern sind kostenlos! E-Mail-Beratung: www.nummergegenkummer.de

1500 Anrufe pro Tag verteilt auf die gesamte Republik

Die Beraterinnen und Berater gewichten nicht, sie hören zu, nehmen jedes Problem ernst, zeigen Verständnis. „Viele Kinder sind überrascht, dass wir ihnen glauben, das haben sie oft noch nie erfahren“, sagt  Sabine Golien. Das Angebot wird  gut angenommen. Rund 1500 Anrufe gehen pro Tag bundesweit ein, aufs Jahr verteilt werden knapp eine  Millionen Anrufe verzeichnet.

„In einer Schicht klingelt es quasi  ununterbrochen“, sagt Helmut Ring, Vorsitzender des Kinderschutzbundes am Standort Leverkusen, dem „die Nummer gegen Kummer“ angegliedert ist. Die Themen sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst, es geht um „alles, was Kinder beschäftigt“, sagt Ring. Aus Statistiken geht hervor, dass die jungen  Anruferinnen und Anrufer im Schnitt zwischen sechs und siebzehn Jahre alt sind –  Jungen wie Mädchen gleichermaßen.

Ungeplante Schwangerschaft und Zoff mit den Eltern

„Manche wollen sich etwas von der Seele reden,  Szenarien wie eine ungeplante Schwangerschaft durchspielen, andere suchen Hilfestellungen oder Ansprechpartner in ihrer Region“, sagt Ring. Die meisten  Beratungsgespräche drehten sich im vergangenen Jahr   um  Probleme zwischen Eltern und Kindern, auch Einsamkeit, Krankheit, sexueller Missbrauch oder psychische Probleme waren immer wieder Thema.  Wer lieber schreibt, kann sich  per E-Mail an das  „Nummer gegen Kummer“-Team wenden. In einem passwortgeschützten Portal wird anonym beraten. Der Vorteil daran ist die Chance, sich auch über längere Zeit immer mit demselben Ansprechpartner zu schreiben –  rund um die Uhr, an sieben Tagen die Woche.

Generationenstreit und andere (Groß-)Elternsorgen

Die  „Nummer gegen Kummer“ richtet sich nicht nur an Kinder, auch Eltern und Großeltern können sich  anonym melden. Berater Frank M. (Name geändert) zum Beispiel spricht im Nebenraum am Elterntelefon mit einer älteren Frau, die von einem Streit mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn erzählt. Es geht um die Enkelkinder und Erziehungsmodelle, die keinen Konsens finden. Frank  M. ist selbst Großvater und kann sich sehr gut in die Lage der Frau hineinversetzen, versucht aber auch, ihr einen anderen Blickwinkel zu ermöglichen. Kritik oder Abwertung haben im System der „Nummer gegen Kummer“ keinen Platz – „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautet die Devise. Das Beratungstelefon  ist ein Angebot, das die Hürde bei der Hilfesuche niedrig ansetzt. Das Angebot ist kostenlos, die Wartezeiten sind, wenn überhaupt, gering. Die „Nummer gegen Kummer“ ist von jedem Ort, über Festnetz und Handy erreichbar.

Ehrenamtliche Berater dringend gesucht

Der Ortsverband des Kinderschutzbundes Leverkusen feiert dieses Jahr 30-jähriges Bestehen des Beratungstelefons. Er ist für die Ausbildung der ehrenamtlichen Telefonberater zuständig. Außerdem kümmert sich der Verein um Supervisionen und Fortbildungen. Die Kosten dafür werden über  Spenden  finanziert. So unterstützt „wir helfen“ den Verein bei der Ausbildung der Ehrenamtlichen.  Nicht nur die Spenden sind essenziell für den Verein. Ohne die Arbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiter wäre das Telefonberatungsangebot schlichtweg nicht möglich. Deswegen bildet der Verein alle zwei Jahre neu aus – die nächste Runde startet  im Januar und dauert sechs Monate. „Mitmachen kann jeder, der Belastbarkeit, Flexibilität, Toleranz  und ein Herz für Kinder  mitbringt“, sagt Sabine Goblin.  Die Beraterinnen und Berater  stammen aus unterschiedlichen Bereichen, aus den Naturwissenschaften zum Beispiel, dem Finanzsektor oder einem sozialen Beruf.    Das Team sucht aktuell noch Verstärkung. Wer Interesse hat, kann sich ab sofort bewerben. Die Ausbildung findet an Abenden und am Wochenende statt.

Im kleinen Büro in der Bracknellstraße 32 will Mila B. (Name geändert) Susanne H.  ablösen,  aber die Beraterin telefoniert noch. Wie lange, weiß niemand. Die Dauer der  Gespräche richtet sich nach keiner Schicht, kennt keine Zeitgrenze. Dreißig  Minuten später beendet Susanne H. das Gespräch. Das Thema war hart, man sieht es ihr an. Sie kann noch zwei  Sätze mit Mila B. wechseln, dann klingelt das  Telefon erneut.

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