Obdachlose FrauenZu Besuch in einer Notschlafstelle

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Obdachlos zu sein bedeutet oft auch einsam zu sein.

Köln – Beim Puzzeln schmilzt das Eis. Puzzleteil für Puzzleteil kommen die Erinnerungen – und Susanne S. und  Marlene B. miteinander ins Gespräch. Darüber, wie sehr sie ihre Kinder vermissen, wie eisenhart das Leben auf der Straße ist, wie schwer es ist, ein wenig Geld zu sammeln.  Sie sagen lieber „sammeln“, weil „betteln“  ihnen ihre Würde nähme.

„Eine Szenerie mit Seltenheitswert“, kommentiert Clara Demel, die heute gemeinsam mit Leslie Merz  die Nachtwache  im „Comeback“ übernommen hat, das Gespräch am langen Holztisch. Denn für gewöhnlich sei  Susanne S. scheu, in sich gekehrt,  lieber alleine mit ihren Sorgen. So wie Alexia T. Die   jugendliche, bildschöne Frau hat sich mit ihrer Lektüre an einen  einsamen Platz auf der Terrasse geschlichen. Wären da nicht die Wanderschuhe, würde man  sie eher auf einem Laufsteg  erwarten als hier im Souterrain  des Mauritiussteinwegs 77.

Wir feiern 20 Jahre

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"wir helfen"-Vorsitzende Hedwig Neven DuMont

Alles begann 1993 mit der Kinder- und Jugendpsychologie der Uniklinik Köln, die für ihre jungen Patienten dringend ein neues Therapiehaus benötigte. Angeregt durch eine Ausstellung im studio dumont mit  Kunstwerken dieser Jungen und Mädchen, waren viele Kölner spontan bereit, finanziell zu helfen.  Die „Villa Kunterbunt“ entstand. Zur gleichen Zeit wuchs die Not der Kinder und Jugendlichen, die vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien flohen und in Köln strandeten. All diese Kinder, die dringend Hilfe brauchten, gaben im Herbst 1993 den Impuls, die Aktion „wir helfen“ zu starten. Um dieses Engagement dauerhaft sichern zu können, beschloss der ehemalige Verleger Alfred Neven DuMont vor genau 20 Jahren, im Herbst 1998, den eigenständigen Verein „wir helfen“ zu gründen  - Vorsitzende ist seit der ersten Stunde seine Ehefrau Hedwig Neven DuMont. Jährlich hat der Verein ein anderes Schwerpunktthema, mit dem er Projekte und Initiativen unterstützt, die in Not geratenen Kindern aus der Kölner Region helfend zur Seite stehen und die solide und nachhaltig arbeiten. Das aktuelle Thema lautet „wir helfen: weil alle Kinder eine Chance brauchen“.

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Jede Nacht zwischen 20  und 10 Uhr  beherbergt das einladende Gebäude  bis zu zwölf obdachlose Mädchen und Frauen, bietet ihnen einen Schutz- und Ruheraum in den  finsteren Stunden – von einer Nacht bis maximal vier Wochen. Herzlich willkommen ist jede, die unfallfrei die Treppen ins „Comeback“ hinuntergelangt. Drogen- und Alkoholkonsum sind hier verboten, rassistische Äußerungen, Diebstahl und Gewalt ebenso, Tiere  allerdings sind erlaubt, was außergewöhnlich ist für eine Notschlafstelle.

Verwobene Geschichte

Die Geschichte des „Comeback“ ist eng verwoben mit der Historie von „wir helfen“. Beide Projekte nehmen im Oktober 1998   erst so richtig Fahrt auf – „Comeback“, indem es  in die kommunale Regelfinanzierung überführt wird; „wir helfen“ durch seine Vereinsgründung, die das Engagement der 1993 ins Leben gerufenen Aktion des Kölner Stadt-Anzeiger   dauerhaft und solide verankert.

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Tiere sind in der Notschlafstelle herzlich willkommen.

Zur Vorsitzenden wird Hedwig Neven DuMont gewählt, die bis heute das Herz des Vereins bildet. Auch  ihr im Mai 2015 verstorbener Ehemann, Herausgeber Alfred Neven DuMont, Anne Lütkes, die ehemalige Regierungspräsidentin, und bekannte Stadtpolitiker und Unternehmer sitzen im „wir helfen“-Gründungsgremium. Zwei Jahre zuvor  eröffnete das „Comeback“ seine Pforten, damals allerdings noch in der Gilbachstraße 23, wo sein Träger, der Sozialdienst katholischer Frauen (SkF), bis Juni 2012 Räume angemietet hatte.  

Lücke im Hilfesystem

„Schon lange trieb uns das Thema Mädchen und Frauen, die auf der Straße  leben um, weil es für sie   keine eigene Notschlafstellen  gab“, erinnert sich   SkF-Geschäftsführerin Monika Kleine. Und spielt damit auf eine Lücke im Hilfesystem an. Bis zum 18. Lebensjahr sieht das deutsche Rechtssystem für Kinder oder Jugendliche in einer Notsituation  die Inobhutnahme vor, also die vorläufige Aufnahme und Unterbringung.

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Die Terrasse

Für Frauen über 18 Jahre gab es in Köln lange Zeit nur die Möglichkeit, gemeinsam mit Männern in Notunterkünften unterzukommen. Was fehlte, war ein eigener Schon- und Schutzraum, der sich an den spezifischen Anforderungen und Bedürfnissen wohnungsloser Frauen orientiert. 

Scham und Versagensgefühle

„Obdachlose  Frauen leiden verstärkt unter Scham- und Versagensgefühlen und versuchen, ihre Not und ihre Wohnungslosigkeit zu verbergen“, sagt Kleine. Indem sie  wechselnde, und damit unsichere Unterkünfte bei Freunden, Verwandten oder Bekannten  aufsuchen und öffentliche Unterkünfte meiden, sind sie für Hilfsangebote schwer zu erreichen.   1995 beschloss der SkF, diese Lücke mit einer Einrichtung ausschließlich für junge Frauen und ihre Tiere zu schließen – und erarbeitete ein Konzept für das „Comeback“.  Dank der Anschubfinanzierung von „wir helfen“ konnte das Konzept  im Herbst 1996   realisiert werden.

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Damit Diebstahl keine Chance hat, die Schließfächer im Eingangsbereich des "Comeback"

Es war das zweite, große Projekt, das seine Existenz zum großen Teil  der damals noch jungen Aktion  „wir helfen“ zu verdanken hat.  Im Jahr zuvor wurde aufgrund deren großzügigen Unterstützung  die „Villa Kunterbunt“ eröffnet, ein  Therapiehaus für junge Patienten der Kinder- und Jugendpsychologie der Uniklinik Köln, für das die öffentlichen Kassen kein Geld  hatten.

Aufatmen und abschalten

„Comeback“ bedeutet so viel wie Aufleben, Neubeginn und Rückkehr. Wer einen Abend zu Besuch in der Notschlafstelle des SkF ist, weiß  warum sie keinen anderen Namen tragen dürfte. Sie bietet  Frauen jeden Alters einen Ort, um für einen Moment oder mehr aufzuatmen und abzuschalten –  von den Strapazen, die das Leben auf der Straße mit sich bringt. Und von der erniedrigenden Isolation.

Hier können sie sich körperlich  und seelisch stärken –  mit einer warmen  Mahlzeit,  einem heißen Bad,  mit einer Mütze voll Schlaf,  einer Dosis Zuwendung, mit  sauberer Kleidung, reinigenden Gesprächen. Hier finden sie Respekt, Beratung, Schutz und die Vermittlung in Hilfen. Wovon unter anderem die hölzernen Schließfächer im Eingangsbereich zeugen, in die  Susanne S., Marlene B.  und ihre acht vorübergehenden Mitbewohnerinnen für diese Nacht ihre wenigen Habseligkeiten verstaut haben – Erinnerungsstücke an ein „Leben davor“, in dem es noch Privatheit, Vertrautheit, Sicherheit gab. Und oft auch einen Job.

Straße statt Sekretariat

Susanne S.  zum Beispiel arbeitete  als verbeamtete Schulsekretärin bei  einer nahe gelegenen Kommune –  auch noch nach der Trennung von ihrem Mann und dem anschließenden Scheidungsrechtsstreit vor 17 Jahren. Susanne S.  versucht in den ersten Jahren, sich und ihre vier Kinder, zwei davon chronisch  krank,  mit einer Halbtagsstelle zu versorgen. Doch das Geld reicht hinten und vorne nicht. Susanne S. verliert  ihre Kinder, ihren Job, 2011 schließlich auch ihre Wohnung – und ihre seelische Unversehrtheit.   Seitdem führt die Frau Ende Vierzig, die sich trotz allen Strapazen ein  jugendliches Aussehen bewahrt hat,  wie sie selbst erzählt,  Prozesse gegen ihren Mann, gegen ihren Arbeitgeber, gegen den Vermieter, sucht wechselnde Schlafplätze bei Bekannten,  in Hotels, Wohnheimen, auf Parkbänken.  Und sie sucht Gerechtigkeit.

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Der Waschraum

Behördenphobie

„Auch wenn wir von den Schicksalen  und  Diagnosen unserer Besucherinnen nicht viel wissen –   drei Nächte dürfen sie  anonym bleiben, ab dann müssen sie bei der Stadt melden, dass sie keinen festen Wohnsitz haben –  so beobachten wir  bei Susanne S. und vielen anderen Besucherinnen häufig eine  große Behördenphobie, die einhergeht mit starkem Misstrauen“, sagt  Leslie Merz und Clara Demel ergänzt: „Deshalb nehmen wir uns viel Zeit, um das    Vertrauen der Frauen zu gewinnen und so vielleicht irgendwann dazu zu bewegen,  finanzielle, lebenspraktische oder medizinische Hilfe anzunehmen.  „Andere Faktoren, die es vor allem jugendlichen wohnungslosen Frauen erschweren, Hilfe in Anspruch zu nehmen, sind beispielsweise eine fehlende Einsicht in ihre Krankheit,  mangelnde Unterstützung durch ein familiäres oder soziales Umfeld, selbst gewählte Isolation oder gesellschaftliche  Ausgrenzung“, ergänzt SkF-Sprecherin Anne Rossenbach. Marlene B. und   Alexia T. verbindet zudem eine tiefe Abneigung gegen Aufenthalte in Kliniken oder  Psychiatrien, die sie als  Zwang empfinden. Die Angst vor solchen Maßnahmen, so wichtig sie auch wären, macht es ihnen schwer zu vertrauen und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

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Die Kleiderkammer

Wohnungsmangel

Im Jahr 2016 kamen 167 Frauen und Mädchen ins Comeback, die es zusammen auf 3279 Übernachtungen brachten. Tendenz steigend. Genaue Zahlen  gibt es zwar nicht, doch Fakt ist, dass die Anzahl der Frauen und Mädchen, die auf der Straße leben, seit Mitte der 90er Jahre, verstärkt aber in den vergangenen drei Jahren zugenommen hat –  „vor allem in Städten wie Köln, in denen großer Wohnungsmangel herrscht“, sagt  Rossenbach. Insbesondere im Segment der bezahlbaren  Wohnungen für Alleinstehende, psychisch  Kranke und  Hartz-IV-Bezieherinnen  sei die Wohnsituation seit Jahren angespannt.

Einige von ihnen landen auf der Straße, werden, wie Anne Rossenbach es ausdrückt, „zu streuenden Katzen, die es einmal zulassen, dass wir sie am Kopf streicheln und dann verschwinden.“ Manche vorübergehend. Andere für immer.

200 Obdachlose in Köln

Auch die   Zahl der wohnungslosen Frauen und Mädchen in Köln kann nur geschätzt werden. Mindestens  200 Menschen leben insgesamt  auf Kölns Straßen, vermuten Experten.  Ausgehend von einem  durchschnittlichen  Verhältnis von rund 25 Prozent Frauen und 75 Prozent Männern, kommt man auf 50 Frauen und Mädchen, deren  Lebensmittelpunkt sich auf Kölns Straßen befindet. Mindestens,  denn die Dunkelziffer wird um ein vielfach Höheres geschätzt.

Die Gründe, warum Frauen und Mädchen auf der Straße leben, sind vorwiegend psychische Erkrankungen, Arbeitslosigkeit,  Vereinsamung, Krankheit, Überforderung und Mietschulden. Auch Scheidungen spielen eine große Rolle,  da Frauen aufgrund der meist schlechteren Einkommenssituation bei Trennungen viel häufiger von Wohnungslosigkeit bedroht sind.

Durchs Raster gefallen

Leslie Merz erzählt sichtlich gerührt  von einer jugendlichen „Stammbesucherin“, die vor die Tür gesetzt wurde, weil sie  ihre  Stromrechnungen verschleppt hatte und auf der Straße landete, weil sie keine Familie in Köln hatte, die sie auffangen konnte.  „Es kann jede von uns treffen“, sagt Leslie Merz und Marlene B. fügt  an: „Wenn man in Notsituationen nicht mehr selber funktionieren kann, fällt man selbst in einem reichen Land wie Deutschland schnell durchs Raster.“  Wie viele andere betroffene Frauen auch, die gearbeitet haben, fühlt sie sich in der Wohnungslosigkeit um ihre  „Lebensleistung betrogen."

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