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Sexuelle GewaltMännliche Opfer werden selten gehört – Ein Kölner Schüler berichtet

Lesezeit 7 Minuten
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Köln – Als Ilka Villier Tim nach Jahren zufällig auf einer weiterführenden Schule wiedertrifft, ist er ein anderer Mensch. Vor ihr steht ein fröhlicher und friedlicher  Junge, ein  integrierter, interessierter Schüler.

Sechs Jahre zuvor: Tim, 7, ist das Sorgenkind der Klasse. Er ist   unkonzentriert, unruhig, ungehalten. Rastet  aus scheinbar nichtigen Anlässen aus, prügelt auf Mitschüler ein, beschimpft  sie. Dann wirkt er wieder wie ein Häufchen Elend, hilf- und hoffnungslos. Tims Ausraster  machen ihn zum Außenseiter – ausgeschlossen von der Klasse und von den Lehrern abgeschrieben. Sie raten zur  Versetzung auf eine Förderschule, wissen, wie auch seine ratlose Mutter, nicht mehr ein und aus – und ahnen nichts von dem Martyrium, das  Tim Zuhause erleiden muss.

Missbrauch an männlichen Jugendlichen

Ein Drittel aller Opfer sexuellen Missbrauchs durch Erwachsene sind Jungen, jeder dritte Betroffene ist älter als 12 Jahre.

Jeder vierte Junge erlebt verbale sexuelle Gewalt („Annmache“, Exhibitionismus, Konfrontation mit Kinderpornografie), jeder 20. Junge erleidet strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt mit direktem Körperkontakt.

Mehr als 50 Prozent aller Jungen werden Zeugen sexueller Gewalt, was ähnlich belastend sein kann wie eigene sexuelle Gewalterfahrungen. Schule, Internet und öffentlicher Raum sind die Haupttatorte, an denen Jungen sexuelle Gewalt erleben.

80 Prozent aller Täter und Täterinnen sind Männer, 20 Prozent sind Frauen. Jungen erleben besonders häufig sexuelle Gewalt durch gleichaltrige und ältere Jugendliche – auch von Freunden und Geschwistern. Quelle: Speak-Studie

Vom Stiefbruder missbraucht

Seit einem Jahr wird der sechsjährige Junge von seinem  16-jährigen  Stiefbruder sexuell missbraucht –  jedes zweite Wochenende, immer dann, wenn der zu Besuch ist im neuen Zuhause seines Vaters, bei Tim und seiner Mutter. Die sexuellen Gewalterfahrungen richten in Tims Seele  enormen Schaden an und stellen ihn vor eine innere Zerreißprobe: Er weiß, dass seine Mutter  nach der gescheiterten Ehe mit seinem Vater endlich  wieder glücklich ist. Auch Tim genießt das Familienleben, ist stolz, einen großen Bruder zu haben,  den er trotz allem sehr mag.

Also erduldet Tim das Leid –  damit das Glück seiner Mutter nicht zerstört wird. Schweigt –  weil er Angst hat, dass ihm niemand glaubt. Was dann geschieht, ist Glück im Viererpack – und macht Tims Martyrium zu einer Mutmach-Geschichte, die zeigt: Missbrauchte können seelisch heilen... ...wenn sie sich jemandem anvertrauen  Nach einem Jahr hält Tim, jetzt acht Jahre alt, eines Abends dem inneren Druck nicht mehr stand und erzählt seiner Mutter, was ihm seit zwei Jahren widerfährt.  Viele andere betroffene Jungen tun das nicht. Weil „Opfer zu sein“ nicht in das männliche Selbstbild passt.  Und Indianer keinen Schmerz kennen. Leitbilder wie diese erschweren es missbrauchten Jungen, Hilfslosigkeit oder Ohnmacht für sich zu akzeptieren und halten sie davon ab, sich an andere zu wenden, wenn sie in Not sind. So bleiben sie mit ihrem Leiden häufig allein. 

Andere werden vom Täter unter Druck gesetzt, wollen die Eltern schonen oder haben Angst davor, dass ihr Umfeld ihnen nicht glauben würde, weil es denkt, dass das nur Mädchen passieren kann. Viele junge Betroffene reden auch deshalb nicht, weil sie den Täter schützen wollen, der oft aus dem nahen Umfeld stammt.   ... wenn sie auf jemanden treffen, der ihnen glaubt Tim hat Glück, seine Mutter zweifelt nicht an seinen Worten. Im Gegenteil: Ihr fällt es wie Schuppen von den Augen: Warum sie nicht an Tim herankommt, weshalb er, seit der Stiefbruder zu Besuch ist, öfter bei ihr schlafen will, sein auch ihr gegenüber aggressives Verhalten, die schlechten Schulleistungen.   All das Unerklärliche macht plötzlich einen Sinn. Und auch ihr Partner schenkt Tim sein Vertrauen – trotz Scham und Sorge um seinen jugendlichen Sohn. Kann er das Täterverhalten überwinden? Wie kann ihm geholfen werden? Es fällt nicht schwer, nachzuvollziehen, welch Horrorvorstellung es für Eltern sein muss, wenn das eigene Kind sexuell übergriffig ist.

Fakt ist: Auch für die Mutter und ihren Partner ist die Situation belastend. Sie wollen Tim helfen,  die sexuellen Gewalterfahrungen zu verarbeiten, damit er keine besonderen Folgeschäden behält.  Studien   belegen:  Viele männliche Jugendliche, die keine Hilfe bekommen, konsumieren etwa Alkohol und Drogen, um ihre Flashbacks, ihre Erinnerungen an den Missbrauch  zu stoppen. ... wenn sie frühzeitig die richtige Hilfe erhalten Auf Anraten ihrer besten Freundin wendet sich die Mutter an „Zartbitter“, eine, auch von „wir helfen“ geförderte, Kölner Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen.  Tim beginnt dort  eine traumatherapeutische Spieltherapie, wird für die folgenden drei Jahre von Diplom-Heilpädagogin Ilka Villier betreut – und stabilisiert.  Er lernt, sich sichere Räume zu schaffen. Baut Schatzkisten, in die er  seine Erinnerungen verbannt. „Erinnerungen sind wichtig, um die Betroffenen vor erneuten Gefahren zu schützen. Doch sie müssen an einem anderen Ort als nur im Kopf verwahrt werden, um nicht zum ständigen Begleiter zu werden“, sagt  Villier.  

Tim lernt auch, seine  eigenen Reaktionen und Gefühle zu verstehen. „Viele betroffene Jungen fragen sich zum Beispiel, warum sie plötzlich aggressiv werden oder betrübt sind,  Alpträume haben oder keine Hoffnung mehr“, so Villier. In der Therapie entwickeln sie einen Sinn dafür, in welchen Situationen sie ausrasten, und wie sich selber wieder kontrollieren können – wenn sie zum Beispiel das Brüllen eines Mitschülers an den Täter erinnert, der erhöhte Puls oder Herzschlag beim Sport an die Tat.

Tims Mutter und ihr Partner nutzen das Beratungsangebot von Zartbitter und erarbeiten gemeinsam mit Leiterin Ursula Enders  und ihrem Team das weitere Vorgehen –  in dessen Verlauf der Stiefbruder   in eine stationäre Einrichtung für jugendliche Täter kommt. Tim, der  dadurch zu Hause an Sicherheit gewinnt,  wechselt mit Hilfe  von Zartbitter die Schule – Tims viertes Glück.

Missbrauchte Jungen können seelisch heilen... ... wenn Sie in der Schule einen Schutzraum finden

In der vierten Klasse einer benachbarten Grundschule ist Platz für Tim. Die Klassenlehrerin,  die anonym bleiben will,  engagiert sich seit  Jahren   in der Präventionsarbeit gegen sexuellen Missbrauch  – unter anderem  im Rahmen der Lehrerfortbildung  bei der Bezirksregierung Köln.  Immer wieder arbeitet sie auch mit „Zartbitter“ zusammen, organisiert an ihrer Schule Theateraufführungen des Vereins zur Prävention von sexuellen Übergriffen, Workshops und Beratungen. „Unsere Schule ist gut aufgestellt was das Thema betrifft. Lehrer und Schüler sind geschult und sensibilisiert.“ Das Team von Zartbitter ermutigt die Mutter, offen mit der Lehrerin über Tims Belastungen zu sprechen.

Kurz nach dem Schulwechsel blüht er auf, geht wieder gerne zur Schule, auch weil es in der Klasse klare Regeln für einen grenzachtenden Umgang gibt und „Missbrauch“ immer wieder Thema ist – „Jeder hat das Recht darauf,  zu bestimmen, mit wem er zärtlich sein darf!“

Nachdem Tim mit seiner Klasse das   Zartbitter-Stück „Ganz schön blöd!“ gesehen hat, vertraut er einer Mitschülerin an, dass er selbst missbraucht wurde. „Das Stück hat ihn gestärkt, denn er hat an der Reaktion des Publikums gespürt, dass  seine Mitschüler zu ihm halten  und ihn unterstützen werden,  da sie die Übergriffe als unfair und Hilfe holen als mutig bewerten“, sagt  Enders. Und erzählt, dass seitdem „Zartbitter“ im Rahmen der Präventionsarbeit  schwerpunktmäßig über die Rechte informiere –   das Recht am eigenen Bild, auf Schutz vor sexuellen Übergriffen, auf Hilfe –   sich auch  mehr betroffene Jungen meldeten.  „Es fällt  ihnen leichter, sich über die Verletzung ihrer Rechte zu beschweren, als sich selbst als Opfer zu outen.“

Leider legten Eltern und pädagogische Fachkräfte ein zu geringes Augenmerk auf die Präventionsangebote für Jungen – und die dürfen nicht in  Vergessenheit geraten!, mahnt Enders. Denn sowohl die  Gesellschaft, wie das nahe Umfeld der Betroffenen nehme männliche Opfer nach wie vor  weniger wahr als weibliche.

Tim hat die wichtige Erfahrung gemacht, dass er über seinen Missbrauch reden kann, ohne als Außenseiter, Schwächling oder  Opfer  dazustehen. Er hat guten Anschluss gefunden, fühlt sich sicher und ist ein guter Realschüler.  „Tims Geschichte ist ein Paradebeispiel  dafür, dass Kinder sexuellen Missbrauch verarbeiten können, wenn ihnen geglaubt wird, sie  geschützt werden und  frühe Hilfe erhalten“, sagt Enders. Und wenn es genügend und flächendeckend Präventionsangebote gibt.

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