Sexuelle GewaltWenn die Familie zur Bedrohung wird

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Das Team drehte einen Teil des Trailers auf einem Spielplatz in der Nähe des Wiener Platzes in Köln-Mülheim. Die Erwachsenen tragen Augenbinden als Symbol dafür, dass immer noch zu viele Menschen beim Thema sexuelle Gewalt nicht genügend hinsehen.

Das Team drehte einen Teil des Trailers auf einem Spielplatz in der Nähe des Wiener Platzes in Köln-Mülheim. Die Erwachsenen tragen Augenbinden als Symbol dafür, dass immer noch zu viele Menschen beim Thema sexuelle Gewalt nicht genügend hinsehen.

Es sind unvorstellbare Gewalttaten, die an Kindern wie im Fall von Bergisch Gladbach verübt werden. Dort hatte offenbar mehrere Männer zahlreiche Kinder missbraucht und Fotos und Videos ins Internet gestellt. Laut Kriminalstatistik wurden im Jahr 2018 bundesweit gut 14600 Jungen und Mädchen im Alter misshandelt oder sexuell missbraucht. Dabei handelt es sich lediglich um die Taten, die der Polizei bekannt sind. Die Dunkelziffer wird gravierend höher geschätzt. Laut Bundesregierung hat jede(r) achte(r) Deutsche sexuelle Gewalt in der Kindheit erfahren. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet in einer Studie von 2013, dass 18 Millionen Minderjährige in Europa in ihrem Leben sexuell Gewalt erfahren.

Kostenlose Chat-Beratung

„Kidkit“ widmet sich in seiner neuen Kampagne erstmals dem Thema „Sexueller Missbrauch“. Das Kooperationsprojekt „Kidkit“ des Vereins Koala und der Kölner Drogenhilfe besteht seit dem Jahr 2003 und bietet Kindern und Jugendlichen ein Beratungsangebot im Internet.

Hier können sich Betroffene zu Themen wie Suchterkrankungen in der Familie, psychische Erkrankungen der Eltern oder häusliche Gewalt in der Familie an Mitarbeiter von Kidkit wenden, die vom Deutschen Institut für Sucht- und Präventionsforschung unterstützt werden. Der Fokus liegt auf kostenlosen und anonymen Beratungen per Chat. Bei Bedarf werden die Kinder und Jugendlichen an Therapie- und Beratungseinrichtungen weitergeleitet.

8,1 Millionen Anrufe pro Jahr

„Kidkit“ will mit dem niederschwelligen Angebot besonders jene Betroffene erreichen, die von sich aus zu keiner Beratungseinrichtung gehen würden. Das Internetportal von „Kidkit“ wird offenbar immer bekannter und beliebter: Im Jahr 2018 verzeichnete die Seite knapp 8,1 Millionen Aufrufe – ein Anstieg um 107 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Mit dem Thema „Sexueller Missbrauch“ betreten die Kidkit-Mitarbeiter Neuland. „Die Thematik war immer schon Teil unserer Beratungen“, sagt Anna Buning. Daher habe sich das Team auch auf solche Fälle spezialisieren wollen. In den vergangenen Monaten wurden die Mitarbeiter zum Thema geschult, neue Mitarbeiter sollen bis zum Dezember angeworben werden – wenn sie denn finanziert werden können. Denn das Projekt muss sich durch Spenden und Sponsoren tragen. In der Vergangenheit unterstützte auch „wir helfen“ Kidkit mehrmals, aktuell trägt der Unterstützungsverein des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Kampagne mit.

Tatort Elternhaus

Das Thema ist schwierig: Denn Kinder, die sexuelle Gewalt erlebt haben, werden oft innerhalb der Familie missbraucht. Der Ort, an dem sie üblicherweise eher Liebe und Geborgenheit erfahren sollten, wird für sie zum Tatort. Zudem können viele betroffene Kinder kaum mit jemand über die Gewalt sprechen, die sie häufig in den eigenen vier Wänden erfahren. Und wenn, wird ihnen oftmals nicht geglaubt. Betroffene Jungen und Mädchen fühlen sich dann allein, hilflos und dem Täter ausgeliefert. Die Bundesregierung schätzt, dass jede vierte sexuelle Gewalttat in der Familie stattfindet, jede zweite im näheren Umfeld. Fremdtäter seien eher die Ausnahme. In 80 bis 90 Prozent der Fälle sind die Täter Männer. Diese kommen aus allen Schichten, es gibt offenbar kein einheitliches Täterprofil.

In der Folge reagieren betroffene Kinder und Jugendliche ganz unterschiedliche auf die Gewalttaten. Sie fühlen sich schuldig und schämen sich, ihr Selbstvertrauen kann enorm beschädigt werden. Manche zeitigen Entwicklungsverzögerungen, haben mitunter eine gestörte Selbstwahrnehmung oder entwickeln psychische Störungen. Manche werden ängstlich, manche aggressiv, andere entwickeln Essstörungen oder Depressionen, wieder andere nehmen Drogen.

Kinderdarsteller im Käfig

Damit das neue Thema von Kidkit bekannter wird, hat das Projekt auch einen Imagefilm gedreht, der von „wir helfen“ finanziell unterstützt wurde. Gedreht wurde an drei Tagen im Alten Kesselhaus in Düsseldorf, auf dem Spielplatz am Wiener Platz und in der Drogenhilfe Köln. Die Geschichte, die im Trailer erzählt wird, ist einfach, aber effektiv: Ein Kinderdarsteller sitzt im Käfig. Während das Kind zu fliehen versucht, reißen andere Kinder auf einem Spielplatz Erwachsenen Binden ab, die zuvor ihre Augen bedeckten. Die nun nicht mehr „blinden“ Erwachsenen laufen zum Käfig – und befreien das Kind.

Der Kurzfilm, der unter Regie von Volker Weicker und mit Hilfe von Studenten der Kunsthochschule für Medien Köln entstand, zeigt zudem noch Prominente wie Janine Kunze („Einstein“), Shary Reeves („Wissen macht Ah“), Thomas M. Held („Soko Stuttgart“) und Wolfram Kons („Der Preis ist heiß“), die sich in einer parallelen Handlung Augenbinden vom Kopf ziehen und ein Statement zum Thema sexueller Missbrauch in die Kamera sprechen.

Die Vorbereitungen seien schwierig gewesen, besonders die Orte für die Dreharbeiten zu erhalten. Noch in der Nacht vor den Dreharbeiten hatten sich Teammitglieder eine gemeinsame Musikszene aller Protagonisten ausgedacht – und eine entsprechende Musikanlage besorgt. Nun wird der Musikclip vermutlich ab 2. Dezember bei Kidkit zu sehen sein.

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