Sommerblut-FestivalShakespeare statt Stigma

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Ein Teil der Darsteller, Experten der Lebenswirklichkeit genannt , mit Regisseur Severin von Hoensbroech (links) .

Ein Teil der Darsteller, Experten der Lebenswirklichkeit genannt , mit Regisseur Severin von Hoensbroech (links) .

Köln – Odonien – Kaum ein anderer Kölner Ort könnte besser als Gegenstück Venedigs zu seiner Blütezeit Mitte des 16. Jahrhunderts herhalten – und es damit ad absurdum führen. Von Schickeria und Schi Schi, Kurtisanen und Kasinokapitalismus, Palazzi und Protz ist auf dem Gelände von Odo Rumpfs künstlerischem Freistaat keine Spur. Stattdessen: Freiheit, Fantasie, Formenreichtum. Eine Kulisse, die die Sinne Karussell fahren lässt. Eine Oase der Kreativität zwischen Bahnschienen und Europas größtem Bordell. Ein Ort des Respekts vor Andersartigkeit.

Schauspieler Lucas Sánchez (links) und Tobias Novo.

Schauspieler Lucas Sánchez (links) und Tobias Novo.

Gründe genug für die Macher des „Sommerblut- Festivals“ Odonien als einen von 24 Veranstaltungsorten für eines ihrer 35 Tanz-, Musik- oder Theaterprojekte auszuwählen: Das Stück „Offenbach meets Shakespeare. Der Kaufmann von Venedig“ feiert hier, zwischen Kunstwerkstätten, Metallskulpturen und anderer Improvisationskunst am 31. Mai Premiere.

Experten der Lebenswirklichkeit

Die Akteure: Drei professionelle Schauspieler (Jasmina Music, Tobias Novo und Lucas Sánchez) und zehn „Ghetto-Kids“, wie sie sich selbst bezeichnen. Jugendliche also, die in Kölns sozialen Brennpunkten, Flüchtlingsunterkünften oder anderweitig ausgegrenzt leben oder lebten. Die in Jugendeinrichtungen ihr musikalisches Talent bewiesen und dort vom „Sommerblut“-Team entdeckt und gecastet wurden – für das von wir helfen geförderte „Kaufmann von Venedig“- Projekt.

Projektleiterin Katharina Gismann im Gespräch mit Festival-Leiter Rolf Emmerich.

Projektleiterin Katharina Gismann im Gespräch mit Festival-Leiter Rolf Emmerich.

Dort nennt man sie „Experten der Lebenswirklichkeit“. Was wesentlich respektvoller klingt und das Grundmotiv des Festivals widerspiegelt: „Menschen aus allen Gesellschaftsschichten an Orten der Hochkultur zusammenzubringen“, sagt Festivalleiter Rolf Emmerich. „Mit dem Ziel durch kreative Prozesse neue Blickwinkel, Perspektiven und Welten zu ermöglichen“, sagt Projektleiterin und Kulturmanagerin Katharina Gismann. „Kunst für alle!“, betonen beide unisono am Rande einer der letzten Proben vor dem großen Finale.

Klassik, Rost und Rapper-Einlagen

Im Schatten einer von Rost überzogenen Metallskulptur besprechen die beiden Regisseure Severin von Hoensbroech und Olaf Sabelus mit einer Gruppe Darsteller, wie sich das meterhohe Kunstwerk am elegantesten in die Handlung integrieren lässt. Auf der großen Bühne probt Regieassistenz Amelie Barth mit den beiden „Experten“ Orgesti (17) und Edison (19) Textpassagen – auch aus ihren eigenen Rap-Songs. Orgesti floh vor zwei Jahren aus Albanien nach Köln, wo er, kaum angekommen, im „Grenzenlos“-Flüchtlingschor sang – und bei einem Konzert im Rahmen der Kölner Lichter die „Höhner“ begleitete. „Ich habe schon in meiner Heimat viel Musik gemacht, bin Rapper durch und durch und fühle mich am Altonaer Platz, meinem neuen Zuhause, nicht wirklich wohl.“

Die beiden Regisseure Olaf Sabelus (links) und Severin von Hoensbroech.

Die beiden Regisseure Olaf Sabelus (links) und Severin von Hoensbroech.

Beim benachbarten Weidenpescher Jugendprojekt „Dachlow“ lernte er seinen Landsmann Edison kennen. Die Jugendlichen nutzten dort, die vom Verein „Zurück in die Zukunft“ angebotene Hausaufgaben- und Bewerbungshilfe, am liebsten jedoch die Hip-Hop-Workshops, bei denen sie Songs schrieben, die nun auch in den Kaufmann von Venedig einfließen. Worauf sie mächtig stolz sind.

Aus dem Ghetto-Leben befreit

Berkay (22) ist so etwas wie der Experte unter den Experten. Der junge Mann türkischer Herkunft kennt das Ghetto-Leben in einem Block im Kölner Norden, aus dem er sich, wie er erzählt, befreit hat, in dem er sich auf das konzentrierte, was er wirklich will: Abitur und Musik machen, tanzen, singen – und „noch in diesem Jahr Sozialpädagogik studieren“.

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Die jungen Darsteller

Bedächtig schiebt er seine schwarzen Locken aus der Stirn, die schwarze Hornbrille auf die Nasenmitte und rezitiert seinen Lieblingsmonolog aus dem Shakespeare'schen Werk: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen? Sind wir euch in allen Dingen ähnlich, so wollen wir’s euch auch darin gleich tun. Die Bosheit, die ihr mich gelehrt, die will ich ausüben.“ Es sind die Worte Shylocks, eines jüdischen Kaufmanns, der, ghettoisiert und stigmatisiert in Venedig lebt und dem christlichen Kaufmann Antonio, der ihn auf der Straße schon bespuckt und als Hund bezeichnet hat, Geld borgt. Für dessen Liebhaber, der pleite ist und heiraten will. Wofür er selbst reich sein muss – oder wenigstens so tun als ob. Ein Vertrag wird aufgesetzt: Für den Fall, Antonio kann das Geld nicht zurückzahlen, darf Shylock ein Pfund Fleisch aus seinem Leib schneiden. Eine rabenschwarze Tragikomödie. Und aktueller denn je.

Bewerbung in der Mülltonne

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Orgesti sang auch schon mit den "Höhnern"

„Es geht es um Ausgrenzung, Ghettos und Parallelgesellschaften und über die Haltung und den Umgang einer Gesellschaft mit Außenseitern und Fremden, die unmenschlich behandelt nicht selten in Unmenschlichkeit ausarten“, resümiert Regisseur Severin von Hoensbroech. „Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass die Kids aus den Kölner Blocks den Zorn Shylocks nachempfinden können“, sagt Berkay wie zum Beweis und fragt in die Runde: „Was machen denn die Demütigungen, die ein Mensch immer wieder erfährt, mit einem? Die Ungerechtigkeiten zwischen den sozialen Klassen, Religionen und Kulturen? Wenn die Bewerbungen in der Mülltonne landen, nur weil man aus einem Randbezirk kommt oder einen ausländischen Namen hat?“

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Probe auf der Freilichtbühne Odoniens.

Ganz anders ergeht es den zehn Jugendlichen beim „Sommerblut“-Projekt. Wo sie – vielleicht erstmals in ihrem Leben – das Gefühl haben, gebraucht zu werden. Wo sie Erfolg erfahren, der sie weit in die Zukunft trägt. Wo sie spielend Deutsch lernen, was ihnen die Integration erleichtert.

Ramadan und Konzentration

Dabei ist das, was sie seit Mitte März – da begannen die Proben – leisten, alles andere als ein Kinderspiel. Schließlich ist „Der Kaufmann von Venedig“ nicht nur Shakespeares umstrittenstes Stück, „es ist ungeheuer schwierig und erfordert hohe Konzentration“, sagt Regisseur Olaf Sabelus. Was während des Ramadans, der genau in die heiße Phase der Proben fällt, doppelt schwer fällt, wenn ein Großteil der Mimen unterzuckert auf der Bühne steht. „Egal“, sagt Orgesti, „die positive Energie hier im Team lässt uns auch diese Hürde nehmen!“ Bleibt zu hoffen, dass das Publikum diese Anstrengungen mit unendlich langem Applaus goutiert.

Das Stück: „Offenbach meets Shakespeare. Der Kaufmann von Venedig“ (Musik: Andy Miles ), 31.5./1.6./2.6. , 20 Uhr, Odonien, Hornstraße 85, 50823 Köln. Die Karten kosten 17/11 Euro

www.sommerblut.de

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