Fetale Alkoholspektrum-StörungWie Pflegeeltern vom Jugendamt allein gelassen werden

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Das Bild zeigt einen Jungen in Simons Alter. Er selbst soll nicht erkannt werden.

Das Bild zeigt einen Jungen in Simons Alter. Er selbst soll nicht erkannt werden.

  • Simon (Name geändert) lebt in einer Kölner Pflegefamilie und zeigt schon als kleiner Junge Verhaltensauffälligkeiten.
  • Zunächst wird ADHS diagnostiziert, doch die Pflegeeltern glauben, dass er eine Fetale Alkoholspektrum-Störung (FASD) hat. Seine Mutter hat in der Schwangerschaft getrunken.
  • Nun gibt es mit dem Kölner Jugendamt Streit über die Diagnose.

Köln – Simon packt schon als Kleinkind zu fest zu. Er tut anderen Menschen weh, wenn er sie eigentlich umarmen will. Wenn er im Streit beißt, und das tut er oft, kriegt er die Zähne sekundenlang nicht mehr auseinander. Schon als Zweijähriger trägt er viel zu schwere Gegenstände durch das Haus, an einen Fünf-Liter-Kanister Wasser kann seine Pflegemutter sich erinnern. „Er hat sonst nichts gefühlt“, sagt sein Pflegevater Herr L., fast entschuldigend über die Umarmungen, und seine Frau dachte damals: Irgendetwas stimmt mit Simon nicht.

Und nun, Jahre später, glauben sie zu wissen, woran es liegt. Ihr Sohn habe eine Fetale Alkoholspektrum-Störung (FASD). Kinder mit dieser Erkrankung haben Entwicklungsstörungen und zeigen Verhaltensauffälligkeiten, weil die Mutter in der Schwangerschaft Alkohol trank, der den Fötus nachhaltig schädigte. Simons Verhalten passt in die Merkmale der Krankheit. Seine Geschichte will das Ehepaar L. anonym erzählen, um Simon (Name von der Redaktion geändert) und ihre andere Pflegetochter zu schützen. Sie sitzen in einem weißen Einfamilienhaus in einem Neubaugebiet im Kölner Süden. Simon merkt, dass im Wohnzimmer über ihn gesprochen wird, der Zehnjährige kommt ab und zu mit schlurfendem Gang unter einem Vorwand herein und setzt sich im weißen Fußballtrikot der Nationalmannschaft mit an den Esstisch. Herr L. holt mit ihm irgendwann die jüngere Tochter aus der Kita ab, er soll nicht schon wieder mithören, was über ihn gesprochen wird.

FASD hat viele verschiedene Ausprägungen

Das Paar hat sich, seit der Verdacht FASD im Raum steht, mit dem Pflegekinderdienst (PKD) der Stadt Köln überworfen. Die beiden fühlen sich ungerecht behandelt, einerseits mit dem schwierigen Jungen allein gelassen und andererseits gegängelt, weil seine rechtliche Vormünderin die Diagnose nicht anerkennt, Hilfe und bestimmte Therapien teilweise verweigert. Früher seien sie eine Vorzeige-Pflegefamilie für den städtischen Dienst gewesen, erzählt Frau L., interessierten Paaren wurde ihr Kontakt vermittelt. Dann kamen die Paare zu ihnen zu Besuch, um zu sehen, wie das so ist, mit einem Pflegekind. Heute gibt es ständig Streit mit dem Jugendamt. Der Name der Familie ist dort bestens bekannt.

Alkohol in der Schwangerschaft

Zahlen

Schätzungen zufolge trinkt fast jede dritte Frau in Deutschland in der Schwangerschaft Alkohol. Bis zu 10.000 Neugeborene kommen pro Jahr mit FASD auf die Welt – also fünfmal so viele wie mit Down-Syndrom. 

Auswirkungen auf das ungeborene Kind

Das ungeborene Kind ist durch die Plazenta dem gleichen Alkoholpegel wie die Mutter ausgesetzt, wenn diese Alkohol trinkt. Die Leber des Kindes baut das Zellgift aber  langsamer ab. Je nach Entwicklungsphase des Ungeborenen hat der Alkohol dann eine unterschiedlich schädigende Wirkung auf Organe oder das zentrale Nervensystem. Das erklärt auch, warum FASD in so vielen verschiedenen Ausprägungen vorkommt. Darüber hinaus ist Alkohol auch psychoaktiv wirksam und verändert seelische Abläufe.

Pflegekinder mit FASD

Statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse ein Kind mit FASD. Jedes vierte Pflegekind hat FASD. 90 Prozent der Betroffenen haben Probleme mit der psychischen Gesundheit.

Hilfe für Familien

Betroffene Familien können sich für Diagnostik, Therapie und Beratung an regionale Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) wenden, etwa an das SPZ des Kinderkrankenhauses Amsterdamer Straße. Weitere Informationen gibt es beim Fachzentrum für Pflegekinder mit FASD in Köln. www.fasd-fz-koeln.de

FASD ist bei Pflegekindern zunächst nicht selten, oft wird es erst spät erkannt, weil die Ausprägungen sehr unterschiedlich sein können. Es gibt Kinder, die mit Fehlbildungen oder Behinderungen zur Welt kommen – oder ganz ohne körperliche Merkmale. Simon hat eine zu kleine Blase, kam zeitweise täglich mit einer nassen Hose aus der Kita. „Ich habe den Urin irgendwann schon gerochen, wenn ich den Kindergarten vorne betreten habe“, sagt Frau L.

Simons Mutter hat in der Schwangerschaft getrunken

Die Verhaltensauffälligkeiten der FASD-Patienten erinnern oft an ADHS. Das war auch die erste Diagnose von Simons Kinderarzt, als Simon in der Grundschule wiederholt Probleme hat. Laut den Eltern wird er von einem Mitschüler massiv gemobbt. Er sei oft zitternd nach Hause gekommen. In der Schule reagierte man nicht. Wieder fühlt sich das Ehepaar L. vom PKD im Stich gelassen, der angibt, in Krisensituationen zur Verfügung zustehen.

Den endgültigen Beweis, was ihrem Sohn fehlt, liefert in Frau L.s Augen ein Bericht des PKD, den die Familie beim Familiengericht einsieht. Darin habe gestanden, dass Simons Mutter in der Schwangerschaft tatsächlich Alkohol trank und Cannabis rauchte. Für Herr und Frau L. ist der Fall nun klar. Dabei hatten sie schon bei der Bewerbung um ein Pflegekind angegeben, dass sie kein Kind mit FASD wollen.

Familie fühlt sich hintergangen

„Wir haben damals klar gesagt, was wir uns zutrauen und was nicht“, sagt Frau L. Ein Kind mit geistigen Defiziten gehörte zu dem, was sich das Paar nicht zutraute. Beide haben anspruchsvolle Jobs. Sie wollen eine normale Familie sein. Nun verbringt Frau L. seit Jahren ihre Nachmittage in Behandlungszimmern und bei Therapien, sagt sie. Auch ihre Pflegetochter hat Förderbedarf, auch bei ihr steht der Verdacht FASD im Raum. Außerdem gibt es Probleme mit den leiblichen Eltern, es läuft ein Gerichtsverfahren.

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Nachdem sie bei Simons Vorgeschichte belogen wurden, fühlt sich das Ehepaar endgültig hintergangen. Eine Entschuldigung vonseiten der Stadt habe es nie gegeben, sondern nur den Hinweis, dass der besagte Bericht nicht für ihre Augen bestimmt gewesen sei. Das Jugendamt, dem der Pflegekinderdienst untersteht, möchte sich auf Anfrage dieser Zeitung zu den Vorwürfen nicht detailliert äußern. Nur so viel: Ein Fehlverhalten der Mitarbeiter sei nicht festgestellt worden. Und: „Wird bei einem Pflegekind FASD diagnostiziert, erhalten die Pflegeeltern durch die betreuende Fachkraft eine durchgängige und umfassende Beratung und Betreuung.“

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