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Warnung vor häuslicher Gewalt„Das Kindeswohl hat Vorrang vor dem Infektionsschutz“

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Kinderschützer fürchten in der Isolation eine erhöhte Gefahr für Kinder.

Kinderschützer fürchten in der Isolation eine erhöhte Gefahr für Kinder.

Köln – Holger Hofmann ist Geschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerkes, das sich bundesweit für die Überwindung von Kinderarmut einsetzt. Im Interview warnt er vor mehr häuslicher Gewalt und fordert eine Öffnung der Notbetreuung für Familien in prekärer Situation.

Herr Hofmann, warum trifft das Kontaktverbot Kinder aus benachteiligten Familien besonders hart?

Das Stresslevel ist in Familien in prekären finanziellen Verhältnissen generell höher und vergrößert sich in der aktuellen Lage um ein Vielfaches. Drei Faktoren kommen zusammen: Erstens die Enge einer oftmals kleinen Wohnung und die begrenzten Möglichkeiten für die Kinder. Zweitens erhöht sich für viele die finanzielle Not: Das kostenlose Mittagessen in Schule oder Kita fällt weg, die Eltern kriegen im Supermarkt nicht mehr die günstigen Lebensmittel zu kaufen, weil viele Regale leer sind. Gleichzeitig droht Kurzarbeit oder schlimmstenfalls Arbeitslosigkeit. Drittens verlieren die Kinder Bezugspersonen außerhalb der Familie, mit denen sie über Probleme wie Gewalt oder Vernachlässigung sprechen können.

Es gibt aus der abgeriegelten chinesischen Stadt Wuhan Hinweise, dass sich die Fälle von häuslicher Gewalt verdreifacht haben. Befürchten Sie bei uns ähnliche Zahlen?

Die offiziellen Zahlen werden definitiv steigen. Viel schlimmer allerdings: Durch die soziale Distanzierung wird sich die Dunkelziffer in Bezug auf häusliche Gewalt stark erhöhen, weil die Kinder kaum Möglichkeiten haben, auf ihre Not aufmerksam zu machen.

Wie sehr sind die Hilfsangebote des Jugendamts vom Kontaktverbot betroffen?

Auch das Jugendamt muss seine Mitarbeiter schützen. Viele Jugendämter wissen aber um das erhöhte Hilfsbedürfnis und werden kreativ. Sie bieten Hilfe über Video-Telefonie an oder machen Hausbesuche, bei denen sie Distanz wahren und nur kurz vom Flur aus in die Wohnung schauen, ob alles in Ordnung ist. Bei einer akuten Gefährdung gilt aber: Das Kindeswohl hat Vorrang vor dem Infektionsschutz.

Verzeichnen die Träger bereits eine erhöhte Nachfrage?

Ja, es gibt in einigen Kommunen bereits einen Aufnahmestopp in Frauenhäusern. Ähnliches erwarten wir mit Verzögerung auch bei Kinder- und Jugendeinrichtungen. Man müsste, ähnlich wie bei Intensivbetten im Krankenhaus, jetzt die Kapazitäten erhöhen, um vorbereitet zu sein. Aber vielerorts passiert das Gegenteil. Viele unabhängige Träger der Kinder- und Jugendhilfe müssen um ihr Überleben fürchten. Spenden werden zurückgezogen, auch der Staat streicht Gelder, weil Betreuungseinrichtungen gerade keine Leistungen erbringen.

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Was raten Sie, damit die Lage zu Hause nicht eskaliert?

Eine Tagesstruktur aufrechterhalten und Kinder mit einbeziehen. Rückzugsorte schaffen. Zum Beispiel kann man sagen: Eine Stunde gehört das Schlafzimmer nur mir. Und unter gebotener Vorsicht Nachbarn und die erweiterte Familie um Hilfe bitten, wenn die Nerven blank liegen. So wie man gerade den älteren Mitmenschen hilft, muss man Familien mit vielen Kindern oder Alleinerziehende unterstützen. Konkret plädieren wir für eine Öffnung der Notbetreuung für Familien in prekären Situationen. Hier gibt es schon gute Ansätze und praktische Hilfe. So wurde beispielsweise in Dortmund das Angebot bereits entsprechend ausgebaut.

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