Waschzwang, kein TherapieplatzViele Kinder zeigen jetzt psychische Auffälligkeiten

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Erst- und Zweitklässler kennen kein normales Schulleben ohne Pandemie.

Erst- und Zweitklässler kennen kein normales Schulleben ohne Pandemie.

Köln – Ein Bild auf Instagram geht Eireen Johne nicht mehr aus dem Kopf. Es war zweigeteilt: links ein Foto von tausenden Fans im Fußballstadion, die sich endlich wieder beim Torjubel in den Armen liegen. Rechts die Einschulungsfeier einer Grundschule. Jedes Kind steht mit Maske in einem eigenen Kreidequadrat auf dem grauen Beton des Schulhofs. „Keiner kann mir erzählen: Das macht nichts mit den Kindern“, sagt sie. Sie hat täglich mit Kindern zu tun. Und sie findet: Sie haben sich verändert.

Johne betreut die Kitas der Kölner Diakonie als Fachberaterin und beschäftigt sich gerade intensiv mit der Frage, was wohl passiert, wenn die akute Krise vorbei ist. Die Isolation, die Ungewissheit, ein unsichtbares Virus, das seit eineinhalb Jahren das Leben bestimmt – natürlich macht das etwas mit jungen Menschen, für die der Ausnahmezustand schon viel zu lange Normalität ist. Während die Geimpften sich wieder in den Armen liegen dürfen.

Jeder vierte junge Mensch fühlt sich häufig deprimiert

Nach dem letzten Lockdown haben sie und ihre Kolleginnen vermehrt Kinder in den Kitas, die wieder einnässen. Die einen Waschzwang entwickelt haben. Die schon eingewöhnt waren und plötzlich ihre Eltern morgens nicht mehr gehen lassen wollen. Die nicht mehr sprechen. Sie beobachtet bei manchen klassische Symptome eines Traumas, ähnlich dem von geflüchteten Kindern aus Kriegsgebieten. Und sie fürchtet, dass es in Zukunft noch viel mehr werden. „Kinder brechen erst ein, wenn die akute Bedrohung vorbei ist. Dann kommen die inneren Verletzungen, Schockmomente und Traumatisierungen hoch“, sagt Johne.

Was bleibt von der Pandemie – in Form von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen? In einer neuen Unicef-Studie gab jeder vierte junge Mensch in Deutschland zwischen 15 und 24 Jahren an, sich häufig deprimiert zu fühlen. Aktuellen Schätzungen zufolge lebt laut Unicef jeder Siebte zwischen zehn und 19 Jahren weltweit mit einer diagnostizierten psychischen Beeinträchtigung oder einer Störung wie Angststörung, Depression oder ein anderen Verhaltensauffälligkeit.

Lange Wartelisten bei psychiatrischen Kinderkliniken

Auch Professor Stephan Bender, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Kölner Uniklinik, forscht aktuell zu den Folgen der Pandemie-Beschränkungen auf die junge Psyche. In einer Studie hat er mit Kollegen aus ganz Deutschland Kinder und Jugendliche zu ihrer Situation befragt. Die vorläufigen Ergebnisse bestätigen die bekannten Thesen. „Wir konnten nachweisen, dass die familiäre Belastung der Eltern und der Zustand der Kinder eng zusammenhängt“, sagt Bender am Telefon. Und: Wer vorher schon Probleme hatte, leidet mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit besonders unter der Krise. 20 Prozent der stationären Patienten gaben im Fragebogen an, dass es ihnen in der Corona-Pandemie deutlich schlechter geht.

Auch Bender spricht von einer Verzögerung, bis die Symptome vollumfänglich auftauchen. „Die psychischen Folgen nach Stress oder Traumata kommen immer zeitversetzt.“ Erst einmal ist der Mensch im Überlebensmodus, er zieht sich zurück und verstummt. Mittlerweile sind die Wartelisten der psychiatrischen Kinderkliniken lang. Etwa 50 Prozent mehr Patienten als vor der Corona-Krise warten in NRW auf einen stationären Therapieplatz, schätzt Bender.

Roggendorf/Thenhoven nennen manche „das Dorf der Vergessenen“

Bei zwei Risikofaktoren für geringe Resilienz sind sich die Experten einig: beengte Wohnverhältnisse und ein geringes Einkommen der Eltern. Um beides in Köln zu finden, fährt man vom Hauptbahnhof 25 Minuten mit der S-Bahn Richtung Norden. Halt in Worringen – links vom Bahnhof liegt das Viertel Roggendorf/Thenhoven, Bezirk Chorweiler. Von manchen als „Dorf der Vergessenen“ bezeichnet. Im April schoss die Inzidenz hier mal auf einen Wert von 529, während sie im Kölner Hahnwald bei null lag. Eine paar hundert Meter die Hauptstraße entlang, vorbei an Edeka und Bäcker, liegt das Begegnungshaus. Es wurde vor ein paar Jahren gebaut, finanziert durch EU-Mittel und Zuwendungen von „wir helfen“ und anderen Sponsoren, um Geflüchtete, Anwohner der Sozialwohnungssiedlungen und Alteingesessene zusammenzubringen.

Heute ist Carina Kaiser hier, mit Kinderwagen und Sohn Jakob an der Hand. Die 34-Jährige trägt eine schwarze Lederjacke und eine künstlich verschlissene helle Jeans und sagt: „Der erste Lockdown hat uns die Schuhe ausgezogen.“ Sie lebt mit ihrem Partner und den sechs Kindern auf 105 Quadratmetern. Zwei Kinder teilen sich jeweils ein Zimmer, die zwei Jüngsten schlafen mit im Elternschlafzimmer. Es gab eine Zeit im letzten Frühjahr, in denen sie nicht einmal mit der ganzen Familie einen Spaziergang machen durften, weil die Personenanzahl in der Öffentlichkeit beschränkt war. Ihr Mann wurde gleich zu Beginn der Pandemie von einer Zeitarbeitsfirma entlassen.

Die Familien hat man vergessen, die Klischees sind noch da

Homeschooling war fast unmöglich. Irgendwann erlaubte Kaiser ihren ältesten Söhnen, sich im Zimmer einzuschließen, wenn die OGS-Mitarbeiterin anrief, um mit ihnen am Telefon die Hausaufgaben zu machen. Selbstständig lernen können der mittlerweile Zehn- und Zwölfjährige noch nicht. Der Ältere sei „voll in der Pubertät“, immer hibbelig, hat einen emotional-sozialen Förderbedarf und einen Schulbegleiter. Sie erzählt von den Tagen, an denen „ihre Energiereserven zu neige gingen“, während der zweijährige Jakob sich im Begegnungshaus auf einem alten Schaukelpferd leise quietschend durch den Raum bewegt.

Er heißt eigentlich anders, genau wie seine Mutter. Kaiser hat überlegt, ob sie mit ihrem Namen in der Zeitung stehen will. Sie hat nichts zu verbergen. Ihre sechs Jungs sind Wunschkinder. Aber die Vorurteile gegen Familien mit vielen Kindern aus dem Kölner Norden kennt sie eben doch zu gut. Man mag die Familien oft vergessen haben in der Pandemie, aber die Klischees von Verwahrlosung, Überforderung und Alkohol sind noch präsent. Kaiser will nicht, dass ihre Kinder noch tiefer in eine Schublade gesteckt werden.

Fragen und Sorgen wahrnehmen

Wie die Unterstützung für psychisch angeschlagene Kinder aussehen müsste, weiß Eireen Johne: Mehr Aufklärung für Eltern über Warnzeichen. Kindern die Sicherheit in Beziehungen geben und Routinen im Alltag vermitteln. Kontaktängste durch Spiele und Ausflüge abbauen. Die Kinder mit ihren Fragen und Sorgen wahrnehmen, statt sie zu ignorieren.

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„Kinder können Erfahrungen und Entwicklungsschritte nicht einfach nachholen wie wir unseren Malle-Urlaub“, sagt die Fachberaterin. Isolation, Hilflosigkeit und Angst lassen sich nicht klein reden, indem man sagt: Bald ist Corona vorbei. Sondern höchstens, indem die Gesellschaft alles dafür gibt, den traumatischen Erfahrungen positive entgegenzustellen. Auch Unicef fordert massive Investitionen in die psychische Gesundheit der nächsten Generation.

Neue „wir helfen“-Aktion

Mit unserer neuen Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.

Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 370 502 990 000 162 155 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 370 501 980 022 252 225

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