Zwei LebenDie Geschichte eines Mannes, der sich selbst nicht mehr belügen wollte

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  • Herr S. dachte, er sei glücklich. Ehe, drei Kinder, Eigenheim.
  • Dann trennt sich die Frau von ihm. Und er outet sich als schwul.
  • Die Geschichte von einem, der sich nicht mehr selbst belügen wollte.

Ein Ehebett ist für zwei da, das sagt ja schon der Name und Herr S. sagt, wenn einer von Beiden weg ist, dann fühlt man sich darin sehr schnell sehr allein. Der Abend, an dem das erste Leben von Herrn S. enden sollte, begann mit zu viel Platz, mit einer leeren Seite, einem glatten Kissen. Herr S. lag da, zwei Mal zwei Meter Einsamkeit. Der Zeiger zählte den Sonntag herunter. 21, 22, 23 Uhr. Herr S. stand auf, zog sich an. Noch mal um. Schaute lange in den Spiegel. Entschied sich für das schickere Hemd. Stieg ins Auto.

So viele Jahre, nein, Jahrzehnte waren es doch mittlerweile, seit das Gefühl ihn zum ersten Mal gepackt hatte. Ihn festhielt. Herr S. es zwar verdrängen konnte, aber doch nicht mehr los wurde, nicht mit der Hochzeit, nicht mit dem Eigenheim in der kleinen Stadt bei Köln, nicht mit dem Glück, das nur ein Vater empfinden kann, wenn die Kleinen größer werden, plötzlich laufen, sprechen, „Papa“ sagen.

Vielleicht war das, was ihn trieb, an diesem Sonntagabend, die Einsicht, dass von all dem eh nicht mehr viel kaputt gehen konnte. Vielleicht die Hoffnung, dass er sich dadurch selbst wieder aufbauen würde, ihn, Herrn S., den Mann, der plötzlich existieren musste, ohne dass da noch ein Wir war oder ein Kuss am Morgen. In diesem Moment, sagt Herr S., war es vor allem egal. Sie fragte ja nicht mehr, wo er hingehe. Wann er nach Hause komme.

Wie eine zweite Pubertät

Herr S. sagt, er erinnere sich noch sehr genau an die Fahrt, die Nervosität, die seine Beine zucken ließ und die Finger tippeln, an den Schritt durch den Eingang auf der Ecke, an dem er schon so oft vorbeigekommen war, beobachtet hatte, wie die Männer davor standen, redeten. Nur an eins erinnert sich Herr S. nicht mehr. Ob an dem Abend, als es ihn, den Familienvater, zum ersten Mal in eine Schwulenkneipe zog, seine Frau und seine Kinder zu Hause waren.

Herr S. ist ein sportlicher Mann mit kurzen, braunen Haaren. Er tanzt im Karneval, sein Lächeln ist kräftig. Seine Wohnung liegt nicht weit entfernt von der Kölner Innenstadt, sie ist groß und hat einen Balkon. Herr S. raucht trotzdem am Küchenfenster. Früher war er ja Nichtraucher, sagt er. 38 Jahre lang. Aber als nach jenem Sonntagabend noch mal alles von vorn anfing, das Kennenlernen, sich selbst und die anderen, das Feiern und das Knutschen auch, da fing Herr S. doch noch an. Es war damals wie eine zweite Pubertät, sagt Herr S.

Ist jetzt 17 Jahre her, er ist heute 55 Jahre alt. Er hat mit sich gerungen, ob er seine Geschichte erzählen soll, zum ersten Mal öffentlich. Ist doch alles so privat. Jetzt sitzt er auf seiner dunklen Eckcouch und durchsucht seine Erinnerungen wie andere eine Bibliothek.

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Vielleicht waren sie im Urlaub. Vielleicht bei ihren Eltern. Sie war ja bereits ins Gästezimmer gezogen, sagt Herr S., die Trennung war schon ausgesprochen. Er war immer treu. Immer. Klar, in den Monaten, als die Nähe ging, der Streit kam, in denen nur noch die Kinder ihr Kleber waren, drei Stück, ein Junge, zwei Mädchen, fünf und sieben und neun Jahre alt, da habe er schon manchmal gedacht, auf Geschäftsreise: Wenn dich jetzt einer anspricht, dann gehst du einfach mit.

Es hat ihn keiner angesprochen. Und ja, er würde auch sagen, dass er seine Ehefrau geliebt hat. Er würde aber auch sagen, dass er schon immer schwul war. Nur wusste er lange Zeit gar nicht, was das ist.

Schwulsein.

Niemand, der nicht heterosexuell ist

Eine Jugend am Stadtrand, dort, wo Köln schon erschöpft ausläuft. Es ist kurz vor den 80ern, es ist das Jahr der ersten Christopher-Street-Days in Deutschland. Schwule gelten noch immer als pervers, als unnormal, auf der Straße sieht man sie nur, wenn sie für ihre Rechte demonstrieren. Herr S. ist 14, kommt aus einer konservativen Familie und kennt niemanden, der nicht heterosexuell ist. Er trifft ein Mädchen. Sie wird seine erste Freundin. Es klappt irgendwie. Und dann nicht mehr. Schluss. Nächste Freundin. So geht das ein paar Jahre, in Pubertät Nummer eins.

Abschlussfahrt, zehnte Klasse, sie liegen im Sechser-Zimmer auf den Hochbetten. Jungsgequatsche. Sag mal, wen findest du denn gut? Herr S. denkt nicht lang nach, denkt an einen Mitschüler, ein sportlicher Typ. Ja, er findet ihn gut, richtig toll sogar. Und sagt das auch. Die anderen sagen nichts. Herr S. dann lieber auch nicht mehr.

Schulabschluss, Ausbildung, Studium. BWL in Köln. Um die Häuser und in die Kneipen. Auch mal mit Mädchen. Funktioniert aber irgendwie gar nicht mehr. Manchmal, wenn’s richtig spät wird, übernachtet er bei einem Kommilitonen im Studentenwohnheim. Verknallt sich in ihn. Sagt eines Nachts: „Ich glaub’, ich bin schwul.“ Der Freund sagt: „Nein, bist du nicht.“

Eine Familie aus dem Mehrheitsgesellschafts-Bilderbuch

Zwei Jahre später trifft er sie wieder. Er kennt sie gut und doch gar nicht mehr. Sie waren zusammen in einer Jugendclique, früher, wie viele Jahre ist das her? Jetzt treffen sie sich wieder öfter. Verlieben sich. Werden ein Paar. Sie wird schwanger. Hochzeit. Sie kaufen ein Haus. Sind glücklich. Und so glücklich war er doch noch nie, oder? Sie bekommen noch zwei Kinder. Familie S. ist eine fürs Mehrheitsgesellschafts-Bilderbuch.

Geht doch. Fast zehn Jahre so. Herr S. denkt nicht mehr an den Mitschüler oder den Studienkollegen und auch nicht an andere Männer, zumindest nicht oft, da sind die Kinder, da ist die Ehe. Funktioniert. Muss funktionieren. Herr S. liebt seine Familie. Dann trennt sich die Frau von ihm. Ein paar Monate leben sie noch zusammen im Haus.

An einem Sonntagabend um 23 Uhr aber zieht sich Herr S. ein schickes Hemd an, steigt in sein Auto und fährt zum ersten Mal in eine Schwulenkneipe. Bestellt sich ein Bier. Ein älterer Mann spricht ihn an. Herr S. verlässt den Laden ganz schnell.

Aber er kommt wieder, in der Woche darauf. Und in der danach. Wird Stammgast. Zieht nach Köln, in die Wohnung, in der er jetzt am Küchenfenster raucht. Lange Nächte, Alkohol und Hormone im Blut. Herr S. küsst zum ersten Mal einen Mann. Wilder ist das als mit den Frauen, aber sonst eigentlich gleich. Fühlt sich nur besser an. Dann lernt er an der Theke einen für länger kennen. Herr S. hat jetzt seinen ersten Freund.

Die Kinder kommen alle zwei Wochen. Übernachten bei ihm. Sie merken, dass er jetzt raucht, sie sehen ihren Vater, wie er feiert, auf einem Foto, das er in seiner Wohnung aufgestellt hat.

Wenn sein Freund auch da ist, tut Herr S., als sei der nur ein Kumpel. Sie machen viel zu fünft, Herr S., sein Freund, die drei Kinder. Eines Abends wird die Älteste noch einmal wach, läuft in den Flur. Hört ein Geräusch. Erkennt es als Kuss.

„Ich hab’s schon immer gewusst“

Schon wieder Doppelleben. Oder immer noch? Er will das nicht mehr. Wie sagt man sowas? Übrigens, Euer Papa liebt jetzt Männer. Nein, so einfach kann das nicht sein. Er besucht einen Gesprächskreis für schwule Väter. Braucht ein Jahr.

Ruft die Kinder in die Küche. Er sagt, der Freund, der Kumpel, das ist kein Kumpel. Das ist mein Freund. Die Älteste sagt: Ich weiß. Dann machen sie weiter wie vorher.

Er trifft sich mit der Ex-Frau auf ein Bier. Sie sagt: „Daran lag es also.“ Er sagt es auch den Freunden von früher. Manche können es nicht glauben. Andere sagen: „Ich hab’s schon immer gewusst.“

Am meisten fürchtet er sich davor, es den Eltern zu sagen. Du lernst schon wieder eine kennen, sagen die doch immer. Nein, sagt Herr S. jetzt. Erklärt alles. Das nächste Weihnachten feiern sie zusammen, die Eltern, der Sohn und sein Partner. Alles gut. Auf einmal. Plötzlich. Wie leicht das geht. Die Kinder mögen seinen Freund sehr. Wenn es Sommer wird, fahren sie zusammen in den Urlaub. Der Mutter gefällt das, zumindest sagt sie das, vor den Kindern, sagt, sie freue sich, dass Herr S. endlich er selbst sein kann. Ihm selbst sagt sie das nicht. Sie sprechen kaum.

Die Älteste kommt in die Pubertät und jetzt oft mit Freundinnen vorbei. Sie wollen ihn alle kennenlernen. Manchmal, sagt Herr S., habe er sich gefühlt wie ein Tier im Zoo. Hier zu sehen: der schwule Vater.

Irgendwann wieder Trennung. Von seinem Freund. Fast so lang wie mit seiner Ehefrau war er mit ihm zusammen, es tat sehr weh, sagt Herr S. Ihm und den Kindern auch.

Zwei glückliche Leben

Mittlerweile sind sie groß. Kommen nicht mehr so oft. So ist das, wenn sie älter werden, sagt Herr S. Sie sind und bleiben das wichtigste in meinem Leben.

Manchmal wünscht er sich, dass er es früher gewusst hätte. Es sich eingestanden hätte.

Du bist schwul.

Damals, in der zehnten Klasse schon oder im Studium.

Sofort schlechtes Gewissen. Dann wären die Kinder nicht da. Das Ein und alles. Nein, das kann er gar nicht wollen.

Eigentlich kann ich doch froh sein, sagt Herr S. Ich hatte zwei glückliche Leben. Die meisten haben doch nicht mal eins.

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