Robert SpaemannWahrheit spricht mit leiser Stimme

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Stellen wir uns vor, Wesen aus einer anderen Galaxie blickte auf unseren Planeten- was empfänden sie als Wahrheit?(Bild: RTR)

Stellen wir uns vor, Wesen aus einer anderen Galaxie blickte auf unseren Planeten- was empfänden sie als Wahrheit?(Bild: RTR)

Wenn heute über „Wahrheit“ gesprochen wird, so lautet die herrschende Vorstellung, dass es mit Bezug auf die wirkliche Wirklichkeit, jenseits unserer wissenschaftlichen Modelle, so etwas wie Wahrheit nicht gibt. Also auch nicht mit Bezug auf alles sogenannte Orientierungswissen. Hier formiert sich im Namen von Freiheit ein heftiger Widerstand gegen jeden Wahrheitsanspruch. Es ist zwar ständig von „Werten“ die Rede, aber dieser -Begriff ist in seiner heutigen Verwendung durch und durch vom Relativismus initiiert. Schon die Rede von „unseren Werten“ oder von „christlichen Werten“ usw. ist relativistisch. Sie suggeriert ja, dass Werte in Wertungen gründen statt umgekehrt Wertungen in Werten. Und wenn dann doch für europäische Werte ein Absolutheitsanspruch erhoben wird, dann gilt dieser Anspruch eigentlich nur einem Wert, der unbedingt gelten soll, dem höchsten Wert Europas nach Auskunft unserer Bundeskanzlerin, dem Wert der Toleranz.

Darin steckt aber ein Denkfehler. Toleranz gilt den Überzeugungen anderer Menschen, die wir für irrig halten, aber achten, weil es Menschen sind, die sich mit ihnen identifizieren. Und solche Toleranz gründet selbst in einer höchst voraussetzungsvollen eigenen Überzeugung von der Würde jedes Menschen.

Der Wertekanon kippt

Heute wird aber landauf, landab gesagt, so etwas wie unbedingte Wahrheitsüberzeugungen seien ihrer Natur nach intolerant, weil sie gegenteilige Überzeugungen für falsch halten. Und damit kippt der ganze Wertekanon um. Toleranz respektiert Überzeugungen. Der neue Begriff von Toleranz aber verbietet es, Überzeugungen zu haben, weil diese per definitionem intolerant sind. Mit Bezug auf metaphysisches und normatives Denken soll es nur beliebige „Meinungen“ geben. Aber das verkennt, dass auch Meinungen auf Wahrheit zielen und nicht Wahrheit relativieren. Wer der Meinung ist, in anderen Galaxien gebe es ebenfalls denkende und fühlende Wesen, der kann zwar diese Meinung nicht durch Beweise in Wissen verwandeln. Auch die gegenteilige Meinung gibt es weiterhin. Nur die Wahrheit ist vom Streit der Meinungen ganz unabhängig. Es gibt nämlich entweder solche Wesen, oder es gibt sie nicht, auch wenn wir das nie wissen werden. Das heißt, eine der beiden Meinungen ist wahr und die andere falsch. Denken wir uns eine ähnliche Diskussion unter denkenden Wesen in einer anderen Galaxie mit Bezug auf unseren Planeten. Wir wissen ganz genau, wer von den beiden Parteien recht hat. Denn wir wissen, dass es uns gibt und das jedes Wesen im Universum irrt, wenn es meint, uns gebe es nicht.

Natürlich schränkt Wahrheit unsere als Vielfalt von Optionschancen verstandene Freiheit ein. Das liegt in der Natur der Sache. „Die Wahrheit, mein lieber Sohn“, so schreibt Matthias Claudius, „die Wahrheit richtet sich nicht nach uns, wir müssen uns nach ihr richten.“ Es ist klar, dass derjenige, der Physik studiert hat, nicht mehr beliebig fantastische Annahmen über die Wirklichkeit machen kann. Dennoch gilt das Wort Jesu: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ Frei ist der, der weiß, was er tut, denn nur der tut, was er will. Wer ein falsches Medikament nimmt, in der Annahme, es werde ihm helfen, der hat nicht getan, was er wollte, denn er wollte gesund werden. Nur wer die Wirkung des Medikaments kennt, tut, was er will, wenn er das richtige nimmt. Dieses Argument findet sich in unübertrefflicher Weise schon von Platon entfaltet.

Im Johannes-Evangelium antwortet Jesus auf die Frage des Pilatus, ob er ein König sei: „Ich bin dazu geboren und in die Weit gekommen, um von der Wahrheit Zeugnis zu geben.“ Wir können fragen, wieso das eine Antwort auf die Frage des Pilatus ist. Es ist typisch für Jesus im Johannesevangelium, dass er oft auf Fragen in einer Weise antwortet, dass man zunächst nicht versteht, was die Antwort mit der Frage zu tun hat. In diesem Fall scheint es mir klar zu sein. Von Natur ist kein Mensch König über einen andern. König ist allein der, der die ihm Anvertrauten im Tiefsten ihres Wesens und ihres Wollens kennt und versteht und sie deshalb dorthin führt, wohin sie eigentlich und im Grunde selbst wollen. Herrschaft der Wahrheit ist die einzige Alternative zur Herrschaft von Menschen über Menschen.

Wir können uns das leicht klarmachen am Beispiel unserer Verfassung und der darin enthaltenen Grundrechte, die keiner Änderung durch parlamentarische Mehrheit unterworfen sind. Wenn es keine Wahrheit im Bereich des Rechtes und also keine Herrschaft der Wahrheit gibt, dann ist eine solche Verfassung eine Herrschaft der Toten über die Lebenden. Wenn die Grundrechte nur Ausdruck der persönlichen Meinungen der Verfassungsväter sind, dann bedeuten sie

einfach Tyrannei. Anders, wenn die Verfassungsväter, teilweise unter dem frischen Eindruck der Naziherrschaft, eine Wahrheit über den Menschen und seine Würde ausgedrückt haben, das sie in keiner Weise als etwas betrachteten, das ihrer Willensentscheidung entsprang. So wie wir uns auch nicht der Person des Pythagoras unterwerfen, wenn wir von ihm den Satz des Pythagoras gelernt haben. Wer diesen Satz verstanden hat, darf den Namen Pythagoras ruhig vergessen.

Es gibt heute eine gewisse Einsicht in die Tatsache, dass ein extremer relativistischer Individualismus eine soziale Katastrophe bedeutet und dass keine Zivilisation bestehen kann ohne einen gewissen Wertekonsens. Aber wo Erziehung im Sinne dieses Konsenses tätig ist ohne den Glauben an die Wahrheit dessen, was sie vermittelt, da handelt es sich nur um eine Konditionierung zugunsten eines Autoritarismus, der sich heute in der Regel als „political correctness“ präsentiert. Er zielt auf Anpassung, nicht auf Wahrheit.

Einsicht in Wahrheit aber gibt es nur in Freiheit. Verhalten kann und muss gelegentlich erzwungen werden. Wahrheitseinsicht und Glauben können nicht erzwungen werden. Die Wahrheit spricht mit leiser Stimme.

Wir leben heute in einer Welt, in der die virtuelle Realität eine immer größere Rolle spielt. Wissenschaft und Technik gewinnen ihre Erkenntnisse zu einem großen Teil dadurch, dass sie natürliche Wirklichkeit simulieren. Die perfekte Simulation ist die, welche man von dem Original gar nicht mehr unterscheiden kann. Und so gehen die Menschen unmerklich dazu über, die Wirklichkeit selbst für nichts anderes als ihre Simulation zu halten. Die Computer sollen so menschenähnlich sein wie möglich. Und am Ende bilden wir uns ein, wir seien selber nichts als unsere Computer. Dabei fällt einem der Vers des Psalms ein über die Heiden, die ihre handgemachten Götter verehren: „Sie sehen nicht, sie hören nicht, sie gehen nicht, sie riechen nicht.“ Und dann fährt der Psalmist fort: „Ähnlich werden ihnen die, die sie machen.“

Und doch wehrt sich der Mensch instinktiv dagegen, es nur mit Simulation zu tun zu haben. Stellen wir uns vor, es würde uns angeboten, von jetzt an bis zu unserem Ende, immer in einem Zustand höchster Euphorie zu leben. Wir würden das Beispiel eines solchen Menschen vorgeführt bekommen. Er liegt auf einem Operationstisch, er ist bewusstlos. In sein Gehirn werden Drähte eingeführt, die bestimmte Gehirnregionen stimulieren und in ihm diesen euphorischen Zustand erzeugen, einen Zustand, der andauern wird bis ins hohe Alter, wo dann der Mensch durch eine sanfte Spritze getötet wird, ohne dass er davon etwas merkt. Und nun würden wir gefragt, ob wir ebenso behandelt werden möchten wie dieser Mensch. Ich denke, es wird nur sehr wenige Menschen geben, die bereit wären, ihr gewöhnliches, banales, teils vergnügtes, teils trauriges, teils langweiliges Leben zu tauschen gegen diese Euphorie. Warum? Der so behandelte Mensch ist doch offensichtlich aufs Höchste zufrieden. Ja, aber wir wollen diese Art von Zufriedenheit nicht. Wonach Menschen verlangen, ist nach wie vor Wirklichkeit, ist Wahrheit.

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