Schauspiel KölnKristin Steffen verblüfft als schillernde Nymphe

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Kristin Steffen als Bianca 

  • Anna Tenti debütiert als Regisseurin am Schauspiel Köln mit einer Adaption von Roberto Bolaños „Lumpenroman“
  • Die Schauspieler müssen ganz schön schwitzen, aber der Abend endet unversöhnlich
  • Unsere Kritik

Köln – Die eigentliche Katastrophe des Abends passiert gleich zu Beginn: Bianca und ihr jüngerer Bruder verlieren ihre Eltern durch einen Autounfall. Jetzt sind sie Waisen, komplett auf sich allein gestellt. Sie schwänzen die Schule, gucken endlos fern, später auch Pornos, suchen sich Jobs: sie in einem Friseursalon, er in einem Fitness-Studio, wo er sich, wie es heißt, Muskeln wie Geschwüre antrainiert. Zwei traumatisierte Teenager, die unweigerlich auf die schiefe Bahn geraten werden.

2011 erschien Roberto Bolaños „Lumpenroman“ auf Deutsch, zwei Jahre nach seinem Roman „2666“, der den chilenischen Schriftsteller weltberühmt machte – tragischerweise erst nach seinem frühen Tod mit 50 Jahren. Denn Bolaño hatte wie ein Besessener geschrieben, sich mit einem Leben als Outlaw zum Bastard der Poesie stilisiert. Aber zu Lebzeiten blieb er ein Geheimtipp. 2018 zeigte das Kölner Schauspiel schon eine Inszenierung von „2666“. Jetzt hat Anna Tenti, bislang Regieassistentin am Haus und Kuratorin des „Britney X Festivals“, Bolaños „Lumpenroman“ auf die Bühne gebracht, als Kammerspiel mit drei Schauspielern. Der Plot schrappt nah am Sozialkitsch, und weil die Geschichte in Rom spielt, denkt man das verlorene Lumpenproletariat eines Pier Paolo Pasolini immer mit.

Tempel für Testosteron

Im Bühnenbild von Sinah Hackenberg hocken die Schauspieler auf abgeranzten blauen Gummimatten, wie man sie aus Schulsporthallen kennt. Dazu ein lederbezogener Sprungbock und ein sargähnlicher Turnkasten, alles mit deutlichen Gebrauchsspuren. Die Trashvariante eines Fitness-Studios, und doch ein Tempel für Testosteron, Muskelkult, Männlichkeitsrituale. Anna Tenti bringt die beiden Schauspieler David Kösters und Nicolas Lehni ordentlich zum Schwitzen und lässt sie im Ministudio auf der Bühne Liegestütze und Klimmzüge absolvieren. Außerdem sorgen deren Kraftstrotz-Einheiten für ein Dauerstöhnen, das gut zum eigentlichen Thema des Abends passt: Biancas lieblose, missbräuchliche sexuelle Initiation. Denn der Bruder bringt bald zwei obskure Freunde aus dem Bodybuilding-Studio mit, die sich im Schlafzimmer der Eltern einnisten und nachts abwechselnd Biancas Bett aufsuchen. Sie schläft mit ihnen, ohne wissen zu wollen, wer von beiden es jeweils ist. Später soll sie im Auftrag der drei Jungs als Prostituierte einen ehemaligen Fitness-Weltmeister ausrauben.

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Rotzfreche Lolita

Schauspielerin Kristin Steffen ist die schillernde Nymphe Bianca – eine Idealbesetzung. Die Theaterfassung von Regisseurin Anna Tenti nimmt dem Roman zwar einiges von seinem Subtext, aber dank Kristin Steffens immer verblüffendem Spiel will man doch unbedingt wissen, was es mit diesem Coming-of-Age-Drama auf sich hat. Sie ist ein weinendes Waisenkind wie aus einem Grimm-Märchen. Ist rotzfreche Lolita. Zynische Lulu, die sich die Männer mit Sex gefügig macht. Allerdings: Bei Roberto Bolaño ist es die Geschichte einer Emanzipation mit erotischen Mitteln. Das war der 28-jährigen Regisseurin Anna Tenti vermutlich zu viel Männerfantasie, zu wenig #MeToo. So endet ihr Abend unversöhnlich: mit einem achselzuckenden abrupten Abgang der Hauptfigur und pessimistischem Grummeln. Nach einer beschädigten Jugend ist keine Erlösung in Sicht.

Weitere Vorstellungen am 10. und 24. Januar 2020 in der Grotte Depot

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