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Lernexperte über Schule nach Corona„Ich hoffe, es gibt kein Zurück zur Normalität“

Lesezeit 10 Minuten
Schulcheck-Header-Folge 5

  • Jürgen Möller ist Leiter der Kölner Akademie für Lernpädagogik. Er versteht sich als Bildungsaktivist, der deutschlandweit Vorträge zum Thema Lernen hält.
  • Im Interview spricht er über die Digitalisierung des Lernens und die Frage, was guter digitaler Unterricht eigentlich ist.
  • Möller hat außerdem eine klare Meinung zur Handschrift und fordert die Einführung neuer Schulfächer.

Herr Möller, Corona hat die Schulen mit Wucht in die Digitalisierung katapultiert. Wie ist Ihre Bilanz nach einem Jahr Corona an den Schulen? In den letzten zwölf Monaten ist zweierlei sehr offensichtlich geworden: Erstens das Versagen von Politik und Schule beim Aufbau von digitaler Infrastruktur und Unterrichtskultur. Zweitens die Mängel auf Seiten der Schüler: Vielen Kindern fällt schwer, sich selbst zu organisieren und zu fokussieren. Bei der Pisa-Sonderstudie zum digitalen Know-How der Schulen hat Deutschland auf Platz 76 von 78 abschlossen. Wir haben aber die Verantwortung, die Schüler auf das vorzubereiten, was sie in der digitalen Arbeitswelt erwartet.

Was ist denn für Sie guter Digitalunterricht?

Manche denken schon, Arbeitsblätter verschicken oder eine normale Schulstunde mit Videokamera ist digitaler Unterricht. Dabei ist digitaler Unterricht eine neue Philosophie, auch über Corona hinaus: Schüler werden vom Konsumenten zum aktiven Produzenten. Auf die Fähigkeit, kooperativ zu arbeiten, kommt es künftig an. Guter Digitalunterricht und auch digitale Bausteine des Unterrichts nach Corona bedeutet, dass Kinder Inhalte produzieren und die Medien gut einsetzen. Das beinhaltet aber auch mal das Denken außerhalb des Fächerkanons: Außerhalb der Schule ist kein Problem der Welt in Fächer aufgeteilt. Aber wir denken noch in 45 Minuten Chemie und 45 Minuten Physik.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Wenn man gemeinsame Geschichten entwickelt. Ich habe mal mit meiner Klasse in einer Brennpunktschule eine Firma gegründet und die Tablets dafür genutzt, sich digital zu organisieren mit verschiedenen Abteilungen von Marketing bis Produktion und Geschäftsführung. Da waren alle mit hoher Eigenmotivation dabei, haben Produkte entwickelt, sich gegenseitig Arbeitszeugnisse geschrieben oder Videopräsentationen gemacht. Außerdem sind wir immer noch darauf geeicht, dass alle Kinder im gleichen Tempo den gleichen Lernstoff machen, der zur gleichen Zeit abgefragt wird.

Zur Person

Jürgen Möller ist Leiter der Kölner Akademie für Lernpädagogik. Er versteht sich als Bildungsaktivist, der deutschlandweit Vorträge zum Thema Lernen hält. Einer seiner Schwerpunkt ist die Digitalisierung des Lernens. Zuvor war Möller als Lehrer in vielen verschiedenen Schulen tätig – von der Berliner Brennpunktschule, über das Privatgymnasium bis zur Grundschule. Immer wieder bewarb er sich auf die unbeliebten befristeten Vertretungsstellen, um möglichst viele Schulformen und Schulen von innen kennenzulernen.

Digitalisierung ermöglicht auch künftig, dass Schüler unterschiedlich lernen. Sie bekommen Wochenpläne und können sich zuhause in ihrem Tempo an die Projekte machen. Das ist die große Chance. Da sind andere Länder viel weiter. Die arbeiten mit Programmen, die erkennen, an welchem Punkt ist mein Kind gerade und wo braucht es Unterstützung. Auch bei den Bewertungsmodellen kann man sich andere vorstellen als einfach nur Wissen abzufragen. Statt den Satz des Pythagoras abzufragen, machen die Schüler ein Lernvideo, in dem sie anderen Schülern erklären, wie der Satz funktioniert. Das zeigt viel besser, dass die Schüler den Stoff wirklich verstanden haben.

Das bedeutet aber, dass Schülerinnen und Schüler die Kompetenz haben müssen, selbstständig zu arbeiten. Daran hapert es doch im Zweifel mehr als an Tablets…

Das stimmt. Deshalb bräuchte es an jeder Schule das Schulfach „Lernen lernen“, wo es um Lerntechniken, Konzentration, Förderung von Selbstständigkeit und Persönlichkeitsentwicklung geht. Den Schülern fehlt es an dem Wissen, wie man Ziele erreicht. Das ist aber wichtig für die Zukunft.

So ein neues Fach würde aber bedeuten, dass man sich von anderen Inhalten trennen und den Lehrplan abspecken müsste…

Und dann kommt sofort der Druck von Eltern, die Angst haben, dass ihre Kinder etwas verpassen. Der Druck von Wählern und von der Wirtschaft. Das sieht man ja jetzt schon in der Pandemie: Da steht dann reißerisch, ein halbes Jahr Unterrichtsausfall bedeutet später mal soundso viel Gehaltseinbußen. Die Kinder werden sich in ein paar Jahren aber nicht mehr erinnern, ob sie im Januar 2021 den Satz des Pythagoras gelernt haben, sondern welche Erfahrungen sie in der Pandemie mit dem Lernen gemacht haben. 95 Prozent des Lernstoffs, der in der Schule vermittelt wird, wird eh wieder vergessen. Dafür müssen die Schüler je nach Schulkarriere 15.000 Unterrichtsstunden erleben.

Der Lernstoff wird vermittelt, damit er abgefragt wird. Das ist unser altes Denken, das so viel Druck erzeugt. Wenn man sich aber erlauben kann, fast alles zu vergessen, scheint der Stoff für unser weiteres Leben ja nicht so entscheidend zu sein. Statt Motivation vermitteln wir Angst vor Fehlern. Das hat viel größere Auswirkungen, die Freude an der Herausforderung zu verlieren, als ne fünf in Mathe zu haben. Das heißt nämlich, dass Schüler Herausforderungen aus dem Weg gehen und unter ihrem Potenzial bleiben. Das ist viel gravierender als wieviel weniger Gehalt sie mal haben werden.

Im Hinblick auf das digitale Unterrichten fühlen sich die Lehrer schlecht ausgebildet. Fortbildungsplätze und Schulungen sind Mangelware.

Es gibt ja nicht nur den Fortbildungsmarkt, wo man auch Online-Kurse buchen kann. Es gibt eine große Community, in der man gegenseitig voneinander lernen kann: Unter #instalehrerzimmer tauschen sich täglich tausende Lehrer aus, was sie im Unterricht digital einsetzen und welche Erfahrungen sie machen. Das ist eine unglaubliche Community entstanden, auf die man sich nur einlassen muss. Oder die Communityseite edusiia – da treffen sich Bildungsenthusiasten: Lehrer, Pädagogen, Start-Ups. Klar werden die Lehrer gerade auch im Stich gelassen. Aber hier sieht man, was im Team möglich ist.

Was bedeutet Digitalisierung im Hinblick auf die Lehrerrolle?

Die müssen wir überdenken. Lehrer müssen weg vom traditionellen Lehrerbild, hin zum Lernbegleiter. Für viele Lehrer ist das ein Kontrollverlust, wenn Schüler manchmal mehr wissen als sie selbst. Lehrer, die nicht durch Fortbildungen in ihrer Lehrerpersönlichkeit gestärkt wurden, können das schwer aushalten. Das zuzulassen ermöglicht ganz neue Chancen für die Beziehungsarbeit. Ich habe es immer als bereichernd für den Unterricht erlebt, wenn ich gesehen habe, dass mir die Schüler etwas beibringen konnten.

Ab jetzt geht es nicht mehr um reinen Distanzunterricht, sondern um Hybridunterricht – also den Wechsel aus Analog- und Präsenzphasen. Was macht die andere Anforderung an diesen Unterricht aus?

Wir werden realistischerweise bis mindestens Sommer im Wechselunterricht bleiben. Das bedeutet, wir sollten als eine Säule umstellen auf das Prinzip Flipped Classroom – also umgedrehter Klassenraum. Das heißt: Normalerweise erklärt der Lehrer im Frontalunter den Satz des Pythagoras und die Schüler machen dazu Übungen zuhause. Im Hybridunterricht findet die Vermittlung der Inhalte sinnvollerweise zuhause statt durch Lernvideos, die die Lehrer zur Verfügung stellen. Die kann sich dann jeder in seinem Tempo und so oft er möchte anschauen. Und die klassische Übungszeit findet im Präsenzunterricht statt, wo der Lehrer als Begleiter helfen und vertiefen kann. Lehrer müssen das nicht mal selber machen. Sie können die Videos von Lernyoutubern wie Daniel Jung oder anderen nutzen. Das sind teilweise richtig gute Didakten, die sehr gut erklären können.

Glauben Sie nicht, dass es für viele Pädagogen schwierig ist, ein Mathevideo von Daniel Jung zu nutzen? Denn dann merkt vielleicht der ein oder andere, das die das vielleicht besser erklären als sie selbst. Da ist wieder die Sache mit dem Kontrollverlust…

Das hat viel mit der eigenen Haltung zu tun, ob ich das als Pädagoge aushalte. Sehe ich so ein Video von Daniel Jung als Chance an, mal eine andere Rolle einzunehmen oder sogar von ihm zu lernen oder nehme ich das als Bedrohung wahr. Das System hat da meiner Erfahrung grundsätzlich ein Problem: Als Lehrer, der bewusst an vielen verschiedenen Schulen – von der Brennpunktschule bis zum Privatgymnasium – unterrichtet hat, habe ich mich immer als Lernender gesehen. Wenn ich neu auf einer Schule war, habe daher ich immer Kollegen gefragt, ob ich mal hospitieren könne, um zu lernen. Das war vielen Lehrern nicht angenehm. Da hieß es dann: Grundsätzlich gerne, aber heute würde das nicht viel bringen. Ich gebe nur eine Klassenarbeit zurück. Viele Lehrer machen nach dem Referendariat die Türe zu und sind gewöhnt, alleine mit den Schülern zu sein. Schon Hospitation ist eine Bedrohung. Lehrer müssen gestärkt werden, das zuzulassen und sich nicht in ihrer Rolle angegriffen zu fühlen.

Das wichtigste für gutes und erfolgreiches Lernen ist die Beziehung zum Lehrer. Das haben große Studien wie die Hattie-Studie eindrucksvoll belegt. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass Laptops und Lern-Apps zu Sparmodellen werden und nicht vorhandene Lehrer ersetzen?

Es geht nicht um Entweder-Oder, sondern um eine Erweiterung. Lehrer werden nie ersetzt werden. Sie sind es, die mit ihrer Motivation das Feuer für bestimmte Themen im Schüler entzünden müssen. Und Flipped Classroom bietet mehr Zeit für diese so wichtige Beziehungsarbeit.

Welche Kompetenzen müsste Schule fördern, die Schüler auf eine digitale Welt vorbereiten und noch nicht im Kurrikulum stehen?

Es geht um solche Kompetenzen wie „Lernen lernen“ oder Urteilsfähigkeit ausbilden. Wenn es Schule nie gegeben hätte und sich jetzt die klügsten Leute zusammensetzen würden, um zu überlegen, was gut wäre für Kinder. Niemand von ihnen würde auf die Idee kommen, Schule so zu machen wie sie bislang war. Politiker sind nicht mutig genug, mal groß neu zu denken. Sie haben Angst vor dem Wähler. Warum nicht Fächer Haltung, Gegenwart, Utopie, Vernetzen, Selbstwirksamkeit oder Teamplay? Das sind Kompetenzen, die unsere Kinder in einer Zukunft im Wandel benötigen. Wir müssen weg vom klassischen Fächerkanon.

Was ist in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern schief gelaufen? Antworten gibt es im Podcast „Schul-Check“:

Wenn man sich vor Augen führt, was sich in Deutschland in den letzten 30 Jahren verändert hat. Und wir kommen mit den Methoden aus dem letzten Jahrhundert und bereiten die Kinder auf eine Welt vor, die so längst nicht mehr existiert. Wir müssen alles auf den Prüfstand stellen, losgelöst von dem Gedanken, so haben wir es immer schon gemacht.

Trotzdem gibt es die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten und das analoge Lernen als von gestern deklassieren. Dabei ist neurologisch etwa der Wert des handschriftlichen Notierens eindeutig bewiesen: Wenn ich den Inhalt einer Vorlesung oder auch nur Vokabeln wirklich mit der Hand schreibe, behalte ich mehr.

Das stimmt. Ich bin ein großer Fan von Handschrift, die als Kulturgut verloren geht. Aus neurologischer Sicht ist es wichtig, sie beizubehalten, weil sie beim Lernen Sinn ergibt. Wir müssen in jeder Situation entscheiden, welche Form der Wissensvermittlung macht am meisten Sinn. Mal ist es das klassische Buch, mal handschriftliche Notizen. Aber eine App, mit der ich in Bio durch den menschlichen Körper durchfahren kann, hat zweifelsfrei einen Mehrwert.

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Frontalunterricht hat nicht ausgedient. Viele Schüler brauchen klare Ansagen und sie hängen einem guten Lehrer an den Lippen. Digitalisierung ist einfach eine weitere Möglichkeit. Lehrer müssen abwägen, ob sie in einer bestimmten Situation zum Arbeitsblatt, zum Buch oder zum Tablet greifen. Nicht nur weil es digital ist, ist es automatisch gut. Es muss pädagogisch Sinn ergeben.

Wenn Corona bald hoffentlich Geschichte ist und alle froh sind, endlich wieder ausschließlich analog unterrichten zu können. Haben Sie nicht die Sorge, dass dann alles wieder in die Vor-Corona-Zeit zurückfällt, weil keine Notwendigkeit mehr besteht?

Ich hoffe, dass es kein Zurück zur Normalität von vor Corona gibt. So sehr der Wunsch danach nachvollziehbar ist. Ich hoffe, dass es genug Lehrer gibt, die mit dieser Einbeziehung der digitalen Medien in der Pandemie auch gute Erfahrungen gemacht haben. Wenn wir das alles nach den Sommerferien wieder ausschließen, wird die Schule als Museum wahrgenommen, das nichts mit der Lebenswelt der Schüler mehr zu tun hat.

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