Selbstverteidigung„Krav Maga“ hat keine Regeln

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Bei Krav Maga ist erlaubt, was wirkt. (BILD: WORRING)

Bei Krav Maga ist erlaubt, was wirkt. (BILD: WORRING)

Niklas Aker reagiert blitzschnell: Der 25-Jährige reißt die Arme des Angreifers beiseite, drückt ihm zwei Finger gegen die Kehle, tritt ihm mehrfach gegen den Kopf und zerrt ihn zu Boden. Schließlich noch ein Tritt in die Genitalien. Dann läuft Aker davon. Allerdings: Schläge und Tritte sind nur angedeutet. Verletzt wird niemand. Hier wird trainiert. Niklas Aker, ein schlanker Wirtschaftsmathematiker, Typ Tennisspieler, übt sich in einem Kölner Sportstudio in der aus Israel stammenden Selbstverteidigungstechnik „Krav Maga“.

Das Training soll auf den möglichen Ernstfall vorbereiten, auf brutale Straßenräuber oder hemmungslose Discoschläger. „Ich möchte nicht einfach nur Sport machen, sondern auch lernen, mich zu verteidigen“, sagt Aker. Im Gegensatz zu traditionellen Kampfkünsten wie Karate oder Taekwondo gibt es im „Krav Maga“ weder Regeln noch einen philosophischen Überbau. Ob ein Tritt in den Rücken oder ein Schlag in die Weichteile - erlaubt ist, was wirkt. Oberste Priorität hat der Sieg.

Der hebräische Begriff „Krav Maga“ bedeutet „Kontaktkampf“. Das Grundprinzip: abwehren, zurückschlagen, den Gegner kontrolliert zu Boden bringen. Erfunden wurde der kompromisslose Nahkampf Mitte der dreißiger Jahre von Imrich Lichtenfeld. Damals verteidigte er als Kopf einer Jugendgruppe in der heute slowakischen Stadt Bratislava jüdische Wohnviertel gegen antisemitische Banden. Für den Überlebenskampf erwiesen sich sportliche und akrobatische Methoden wie Boxen oder Ringen als wenig geeignet. Wirkungsvoller im Straßenkampf sind möglichst einfache Schläge, Tritte und Haltegriffe. „Krav Maga“ war geboren.

Lichtenfeld flüchtete 1940 vor den Nazis und kam zwei Jahre später nach Palästina. Dort trainierte er Teile der jüdischen Untergrund-Streitkräfte Haganah und deren Elite-Einheit Palmach. Nach der Gründung Israels 1948 wurde er zum Nahkampf-Ausbilder in der Armee.

Auch nach dem Tod Lichtenfelds 1998 ist „Krav Maga“ aus dem israelischen Sicherheitsapparat nicht mehr wegzudenken. Für Soldaten, Polizisten und Agenten des Auslandsgeheimdienstes Mossad gehört es zur Ausbildung. Da in Israel wegen des Dauerkonfliktes mit den Palästinensern allgemeine Wehrpflicht für Männer und Frauen herrscht, ist fast jeder mit der Selbstverteidigungstechnik vertraut.

Mehr noch: Inzwischen ist das israelische Nahkampfsystem zum weltweiten Exportschlager geworden. Die von Lichtenfeld gegründete International Krav Maga Federation (IKMF) schult nach eigenen Angaben Sicherheits- und Streitkräfte in Schweden, Indien, Hongkong oder Finnland. Auch FBI-Agenten in den USA kennen sich mit Krav-Maga-Techniken aus. In Deutschland bestätigt das Bundeskriminalamt, dass Beamte an entsprechenden Seminaren teilgenommen haben. „Krav Maga ist sehr wirkungsvoll, es beruht auf instinktiven Bewegungen und ist daher schnell erlernbar“, sagt der israelische IKMF-Direktor Avi Moyal, der früher in einer Anti-Terror-Einheit kämpfte.

Mehr als 1000 Trainer in 45 Ländern zählt die IKMF inzwischen. Zivilisten lernen jedoch eine entschärfte Variante des „Krav Maga“, in der es nicht das Ziel ist, den Gegner fertig zu machen. „Es gilt, eine Attacke unbeschadet zu überstehen und dabei geringstmöglichen Schaden zu verursachen“, erklärt Moyal.

Auch Veit Schiemann, Sprecher der Kriminalitätsopferhilfe Weißer Ring, zeigt Verständnis, dass sich immer mehr Menschen für Selbstverteidigungskurse interessieren. Besonders angesichts der härter werdenden Jugendkriminalität. „Jugendliche sind schneller bereit zuzuschlagen, reagieren heftiger und lassen erst spät von ihrem Opfer ab“, sagt Schiemann. Er fürchtet aber, dass bei einem derart harten Nahkampfsystem schnell Grenzen überschritten werden. „Wer bei Krav Maga nur die Technik lernt, kann selbst zum Täter werden.“ Daher sei wichtig: „Man muss sich stoppen können.“

Das kann Konstantin Kanakaris nur bestätigen. „Kontrolliert euch!“ ist einer seiner häufigsten Aussprüche. Der 40-Jährige betreibt in Overath eine Sicherheitsfirma und gibt Krav-Maga-Unterricht in einem Kölner Fitnessstudio. Seine Wochenendseminare sind meist ausgebucht - vor allem von Personenschützern und Türstehern, aber auch Anwälte und Krankenschwestern zählen zu seinen Kunden. Wie fast alle Krav-Maga-Lehrer akzeptiert Kanakaris nur Volljährige mit tadellosem polizeilichem Führungszeugnis. Er will die Kampftechnik nicht der falschen Klientel beibringen.

Kanakaris - groß, breitschultrig, mit Kurzhaarfrisur - treibt seine Kunden an ihre körperlichen Grenzen. „Krav Maga ist kein Sport. Wir versuchen hier, die Realität so gut es geht nachzustellen“, verdeutlicht er den 13 Kursteilnehmern. Die treten gegen Schutzpolster, schlagen einander Plastikmesser und Pistolenattrappen aus der Hand und schleudern sich auf die blauen Trainingsmatten. Ein bulliger Türsteher prügelt gerade wild auf das Schutzpolster ein und brüllt dabei wie ein Gorilla. Ihm ruft Kanakaris zu: „Nachdenken, was wir gelernt haben.“ Wer „Krav Maga“ trainiert, soll sich aggressiv verhalten, aber nicht die Kontrolle verlieren. Ein schmaler Grat. Kanakaris erklärt: „Man darf nicht vergessen, welche Kampfinstinkte da im Gehirn aktiviert werden.“

Sie zu kontrollieren ist aber nötig, um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. Nach dem Notwehrrecht müsse ein Angegriffener das mildeste der ihm zur Verfügung stehenden Abwehrmittel wählen, erklärt Henning Radtke, Strafrechtsprofessor an der Universität Hannover. „Man muss sich selbst ein gewisses Maß an Zurückhaltung auferlegen und darf auch als Angegriffener nicht den Rambo spielen.“ Gerade Trainer sieht der Strafrechtsprofessor in der Pflicht, die ethischen und rechtlichen Grundlagen zu vermitteln. Egal, ob Polizist, Türsteher oder Opernsänger - es gilt, den inneren Gorilla durch Training zu bändigen.

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