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SeniorentanzDas Walzer-Wunder

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Der Spaß kommt beim Tanzen von allein. (Bild: Grönert)

Der Spaß kommt beim Tanzen von allein. (Bild: Grönert)

Vera Simons wirft den Kopf mit dem in akkurate Wellen gelegten hellbraunen Haar in den Nacken und breitet ihre Arme aus. „Rote Lippen soll man küssen“: Sie singt den Refrain des Schlagers mit. Und sie tanzt – mit vollem Einsatz. Ihre Füße in zierlichen Pumps tippen im Takt der Musik kleine Muster aufs Parkett, ihre Hände malen große Gesten in die Luft. Hier und jetzt, auf der Tanzfläche, während die anderen Tänzer sie wie ein großer Strudel umwirbeln, ist sie frei. Frei von Sorgen und frei von Schmerzen. Denn Vera Simons ist 85 Jahre alt – und eigentlich geht es ihr gesundheitlich gar nicht gut. Aber wenn sie tanzt, vergisst sie das glatt.

Vor gut zwei Stunden ist Vera Simons an der Haltestelle Lenauplatz in Ehrenfeld aus der Bahn geklettert. Dass sie das überhaupt geschafft hat, verdankt sie der Hilfe von zwei Freundinnen, ausgerechnet hier gibt es keinen ebenerdigen Ausstieg. Dabei steigen hier jeden Dienstagnach-mittag ab zwei Uhr auffällig viele ältere Leute aus. In kleinen Gruppen gehen sie langsam in Richtung Dechenstraße. Ihr Ziel: die Aula der Eichendorffschule. An der Garderobe geben sie ihre Pelz- oder Daunenmäntel ab, tauschen die Winterstiefel gegen Pumps oder Lederschuhe. Mit Stiefeln tanzt es sich schlecht. Und der Verein „Kölner Senioren“ lädt hier immer dienstags zum Tanzen ein.

Mit den ersten Akkorden aus dem Keyboard des Alleinunterhalters wird die trostlose Schulaula mit ihrem kalten Neonlicht, den trüben Fenstern, den geklinkerten Wänden und dem abgewetzten Parkett dann zu einem erstaunlichen Ort der Lebensfreude: So gut wie alle Anwesenden erheben sich von den erbsengrünen Resopaltischen an den Fensterfronten, wo sie gerade noch Kuchen gegessen und an Sekt, Wasser oder Kölsch genippt haben, und strömen in die freie Mitte des Raumes. Dort gehen sie in Position – eine Hand in der des Partners, eine auf seinem Rücken – und beginnen, zu tanzen. Manche ganz behutsam, aneinandergeschmiegt und mit kleinen, vorsichtigen Schritten. Andere schwungvoll, mit raumgreifenden, komplizierten Choreographien, als gelte es, einen Preis zu gewinnen oder zumindest ein Abzeichen. Ein üppiges Ambiente oder gar Alkohol zum Mutmachen braucht hier kein Mensch. Was zählt, ist der Tanz.

Für Elisabeth Karst ist die Realschulaula an der Dechenstraße deshalb „das Schönste, was es gibt“. Immerhin, betont sie, „haben wir hier den besten Tanzboden Kölns – das ist echtes Eichenholz!“ Seit 20 Jahren organisiert die 79-Jährige den Tanztreff für die „Kölner Senioren“, backt jeden Montag drei Torten, die ihr Mann an der Theke verkauft, während sie die Kasse macht. Ihre Hände zittern leicht, wenn sie die Karten abreißt, aber die Organisation des Treffs abzugeben oder ihn gar aufzugeben, käme ihr nie in den Sinn. Sie weiß, wie viel diese drei Stunden ihren Gästen bedeuten.

Der älteste Tänzer ist 89

Da ist zum Beispiel Georg Lehmann, mit 89 Jahren der älteste Tänzer. Erst mit 60 hat er angefangen, überhaupt zu tanzen. Seitdem aber tanzt er jede Woche, jeden Tanz, und zwar vorzugsweise mit jeweils wechselnden, naturgemäß jüngeren Partnerinnen. Dann denkt er nicht mehr an seine leere Wohnung, in der er bis vor zwei Jahren seine schwerkranke Frau gepflegt hat. Dass sie ihn immer hat gehen lassen, rechnet er ihr hoch an: „Man muss doch auch mal etwas anderes sehen.“ Und da sind die 34 Paare, von denen Elisabeth Karst gerne voller Stolz berichtet, die sich hier kennen- und lieben gelernt haben.Sie alle eint die Leidenschaft für den Tanz: Auf der Tanzfläche sind die Alltags- und Gesundheitsprobleme vergessen. Das Tanzen funktioniert wie von selbst – auch deshalb, weil die Menschen in der Aula noch aufgewachsen sind in einer Zeit, in der man, wenn man sich näherkommen wollte, ein komplexes Regelwerk beherrschen musste – Etikette, soziale Grenzziehungen, vor allem aber: Tanzschritte. Der Besuch einer Tanzschule gehörte bis in die 60er Jahre zum Erwachsenwerden dazu, heute ist immerhin jedes achte Mitglied im Deutschen Tanzsportverband über 60 Jahre alt.

Selbst im Leistungssportbereich bietet der Verband seit drei Jahren Wettbewerbe für die Altersgruppe „Senioren IV“ an – für Tänzer zwischen 56 und 66.„Wenn ich mit meinem Mann heute ein Schützenfest besuche, gehen wir meist als Erste auf die Tanzfläche – weil sonst niemand mehr geht“, sagt Elisabeth Karst. Und Alleinunterhalter Giovanni Caruso, der jede Woche in der Dechenstraße aufspielt, meint: „Wenn ich auf Geburtstagen spiele, ist es oft so, dass Oma und Opa tanzen, aber die Enkel nicht.“ Gelernt ist eben gelernt – umso müheloser klappt es jetzt, im Alter, mit dem Genießen.

Auf ihre Plätze kehren alle auf jeden Fall erst dann wieder zurück, wenn der Musikant eine Pause einlegt.Auch Vera Simons setzt sich jetzt kurz hin. Auf der Lehne ihres Stuhls ist das Wort „Aula“ eingebrannt, dem Tisch sieht man deutlich sein Alter an, trotz des elfenbeinfarbenen kunstseidenen Deckchens darauf. Vor einigen Wochen ist Simons gestürzt, ihre Beine sind voller Bluter-güsse, mehrere Rippen sind gebrochen. „Wenn ich zu Hause auf dem Sofa sitze, tut es überall weh“, sagt sie. „Aber hier beiße ich die Zähne zusammen und denke nicht mehr daran.“ Ihr üppiger Silberschmuck und die Pailletten auf ihrer Jacke glitzern, während sie erzählt. Simons’ Disziplin ist noch echt preußisch, oder besser: ostpreußisch. Vier Stunden läuft sie täglich, mit ihrem Rollator. Der stört beim Tanzen natürlich, und in der Bahn kann sie ihn auch nicht mitnehmen. Also bleibt er zuhause. Wenn sie tanzt, würde ohnehin niemand vermuten, dass sie ihn überhaupt braucht. Und sie tanzt dreimal in der Woche, dienstags in der Eichendorffschule, mittwochs bei den „Fidelen Senioren“ in Kalk, donnerstags wieder in der Schule.

Eins, zwei, Cha-Cha-Cha

„Solange der Mensch die Knochen bewegt, ist er gesund“, sagt sie und steht bei den ersten Akkorden wieder auf und macht sich auf den Weg zur Tanzfläche. Solange sie sich bewegt, ist sie schließlich gesund.Die Vorstellung, Gesellschaftstanz sei Sport, erscheint anachronistisch angesichts eines Zeitgeistes, der sich lieber von drahtigen Aerobic-Drillsergeants per Headset anbrüllen lässt und Sport erst als solchen gelten lässt, wenn er hinterher schweißgebadet und am Ende seiner Kräfte ist. Dort gilt es, Komfortzonen auf jeden Fall hinter sich zu lassen, sich zu quälen für den Trainingseffekt. Hier in der Aula wird die Komfortzone erst durch die sanfte Bewegung erreicht. Eins, zwei, Cha-Cha-Cha – im Takt der Musik, in der Konzentration auf die Schritte, den Partner, fällt die körperliche Anstrengung kaum auf. Auch die Tänzer in der Schulhalle schwitzen – aber sie tun es eleganter. Schon allein, weil sie statt atmungsaktiven T-Shirts und zu engen Stretchhosen schwingende Röcke und strassbestickte Blusen oder Anzug und Krawatte tragen. Die atem-lose Jagd nach dem idealen Körper – sie haben sie längst eingetauscht gegen altersweises Genießen.

Tatsächlich bestätigt eine ganze Reihe von Studien, dass Tanzen Kraftaufbau und Kraftausdauer, Beweglichkeit und Koordination sogar deutlich positiver beeinflusst als andere Sportarten (siehe Kasten). Zudem ist Reaktionsschnelligkeit gefragt. Außerdem ist da die Herausforderung, sich die Schritte zu merken. Wissenschaftlich bestätigt ist aber auch, dass Tanzen über die Tanzstunde hinaus Einfluss auf die Lebensfreude hat – es steigert das subjektive Wohlbefinden und schafft neue soziale Kontakte, gerade im Alter ein oft schwer zu erfüllender Faktor für Lebensqualität.

Neuere Studien beschäftigen sich mit speziellen Angeboten für Alleinstehende – denn einen entscheidenden Haken hat der Gesellschaftstanz: Man braucht einen Partner. Und der fehlt insbesondere vielen älteren Frauen. „Club Agilando“ heißt das Programm, das der Allgemeine Deut-sche Tanzlehrerverband (ADTV) dazu vor gut drei Jahren entwickelt hat. Hier soll zwar allein, aber eben nicht einsam getanzt werden. Dazu werden gymnastische Übungen und Choreographien verbunden, die auf den klassischen Tanzschritten aufbauen – Foxtrott, Walzer oder Mam-bo. Angeboten wird „Agilando“ in vielen ADTV-Tanzschulen, auch in Köln. Die positiven Effekte, die für den Paartanz bereits nachgewiesen sind, erforscht zurzeit der Neurowissenschaftler Jan Kattenstroht an der Ruhr-Universität Bochum. Seine ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass auch der Einzeltanz das Alter zwar nicht aufhalten, aber doch sehr viel angenehmer gestalten kann.

Die Freundin kommt mit

Karola Reichel, 71, und Inge Schmitt, 78, kennen diese Studienergebnisse nicht. Aber sich das Alter angenehm gestalten, das wollen auch sie. Deshalb sitzen sie an diesem Mittwochnachmittag im Foyer der Tanzschule Breuer und beobachten, wie sich um sie herum kleine Gruppen finden, die bei Mineralwasser, Cola oder Kölsch schnell die Neuigkeiten der letzten Woche austauschen, bevor es losgeht. Karola Reichel ist zum zweiten Mal hier, ihre Tochter hat ihr den „Agilando“-Kurs geschenkt: „Die weiß, wie gern ich tanze.“ Und weil es ihr gleich beim ersten Mal so gut gefallen hat, hat sie heute ihre Freundin Inge Schmitt überredet, mitzukommen.

Vor zwanzig Jahren, erinnert sich Reichel, ja, da habe man noch so richtig tanzen können in Köln: „Was waren da für Lokale! Das Edelweiß – da gab es noch Tischtelefon! Oder das Romantika – da wurde fast nur Tango getanzt. War das herrlich!“ Reichel seufzt wonnig. „Und dann“, ergänzt Inge Schmitt, „sind wir noch über die Dörfer. Früher, da gab es überall was.“ Allein oder gar mit einer anderen Frau tanzen? „Das hätten wir früher nie gemacht!“ Inzwischen haben die beiden Tanzfans umdenken müssen. Den Grund benennt Karola Reichel ganz pragmatisch: „Es gibt ja eh keine Männer.“ Oder sie wollen halt nicht mehr tanzen. „Deshalb“, überlegt Inge Schmitt, „sterben die wahrscheinlich auch früher.“ Auch im Foyer der Tanzschule Breuer sitzen heute, obwohl sich „Agilando“ ausdrücklich auch an Männer richtet, wieder einmal nur Frauen. Sie sind froh über die Gelegenheit, allein tanzen zu können – ohne Partner, aber aufgehoben in einer Gruppe, mit den Schritten und zu der Musik, die sie kennen und mögen.

Horst Bauduin tanzt. Und ganz unwissenschaftlich betrachtet, ist Bauduin, 73 Jahre alt, ehemaliger Turniertänzer und Tanzlehrer, womöglich das beste Beispiel dafür, dass Tanzen jung hält: Er ist klein und beinahe drahtig, wenn er tanzt, sind seine Bewegungen exakt und geschmeidig. Das Tanzen mag sein Jungbrunnen sein, aber es ist mehr als das: „Wenn ich Musik höre, kann ich kaum still sitzen. Ich überlege gleich: Ist das ein Slowfox oder eher ein Jive, und dann möchte ich eigentlich lostanzen“, sagt Bauduin und schnippt schon beim Gedanken daran einen imaginären Takt mit. Sein Lieblingstanz ist der Mambo – „den tanze ich sogar manchmal zu Hause.“

Ruhestand? Egal!

1979 hat Bauduin gemeinsam mit Karl Breuer die Tanzschule gegründet. Die in Sternform angeordneten Scheinwerfer an der golden marmorierten Decke des Tanzsaales hat der gelernte Elektriker noch selbst dort angebracht. 20 Jahre lang hatte er dann eine eigene Schule in Wattenscheid, inzwischen ist Bauduin eigentlich seit acht Jahren im Ruhestand. Und doch hat er sich der Aufgabe gestellt, hier zweimal in der Woche Menschen in seinem Alter gleich einen ganzen Satz an Choreographien einzuprägen. Aus Spaß an der Sache, betont er, und außerdem sei das auch kein Problem: „Den Walzer haben sie alle schon getanzt, da muss man nur das Langzeit-Gedächtnis antippen. Beim Cha-Cha oder Mambo, überhaupt den lateinamerikanischen Tänzen, ist das anders – die gab es damals noch nicht. Aber die meisten kommen erstaunlich schnell mit, sobald die den Rhythmus kennen, haben die das im Blut.“

Und Bauduin motiviert sie, indem er die Tanzstunde so moderiert, wie im ZDF der 70er Jahre große Samstagabendshows moderiert wurden: Mit vielen kleinen Scherzen – „jetzt kommt Rambo – äh, Rumba!“ – aber immer mit der nötigen Contenance. Nie zu laut oder zu anzüglich.Zu Schlager-Klassikern lassen dann zwanzig Damen zwischen 50 und 80 die Hüften kreisen, lockern Arme und Beine, dehnen und recken sich und mühen sich redlich, auch den „Alzheimer-Test“ zu bestehen: Da gilt es, auf einem Bein stehend, den anderen Fuß in der Luft kreisen zu lassen, erst links- dann rechtsherum. „Das ist reine Konzentrationssache“, ruft Bauduin, „das kommt alles vom Kopf her!“ Tanzen ist eben mehr als Beingymnastik. Wenn es an die eigentlichen Tänze geht, trennen sich Anfänger und Fortgeschrittene. Denn die sind durchaus anspruchsvoll: Aus den Grundschritten von Foxtrott, Mambo, Rumba, Cha-Cha-Cha und Walzer werden, nach und nach, kleine Choreographien entwickelt. Im Spiegel erinnern die synchronen Bewegungen der Tänzer fast an die durchkomponierten Musikvideos von Teenie-Stars – nur in Zeitlupe und mit deutlich älteren Protagonisten. Aber das Alter, die größte Angst jedes Popsternchens, schreckt hier schon lange niemanden mehr.

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