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SpieletreffEin Spielplatz für Erwachsene

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Ein Rätsel am Anfang: Von der Decke baumeln die Schablonen um das Rondel im Eingangsbereich. (Bild: Jaschob)

Ein Rätsel am Anfang: Von der Decke baumeln die Schablonen um das Rondel im Eingangsbereich. (Bild: Jaschob)

Dirk ist ein Spieler. Leicht gebeugt sitzt er da, das Kinn auf seinen Handrücken gestützt. Die Bügelfalten der weißen Baumwolltischdecke hat er glatt gezogen. Seine Spielsteinchen vor ihm sind alle geordnet nach Häusern, Arbeitern und Plättchen. Selbst seine Münzen hat Dirk zu Türmchen gestapelt. Nichts darf ihn ablenken. Feine silberne Fäden ziehen sich durch seine Frisur, die an die von Günther Jauch erinnert. Und selbst hier: Nicht ein Haar tanzt aus der wohlfrisierten Reihe. Die Augen wandern über das Spielbrett, flitzen nach links, dann nach rechts. Er ist am Zug, doch seine Gedanken sind nur schwer zu durchschauen.

Was für Fußballfans das Stadion ist, ist für Spieler Willingen im Hochsauerland. Jedes Jahr im November treffen sie sich in dem 6000-Einwohner-Ort, um gemeinsam zu spielen. Manchmal nur zu zweit, manchmal in Gruppen. Tag und Nacht. Auch Dirk Strelow ist einer von ihnen. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter verbringt er hier seinen Familienurlaub, weil "das für mich Entspannung bedeutet". Seine Frau gehe dagegen gerne wandern, seine Tochter habe es vor allem auf den Hotel-Pool abgesehen. Seit mehreren Jahren schon komme er regelmäßig mit seiner Familie nach Willingen. Eine zweite Heimat? Dirk schüttelt mit dem Kopf. "Wir fahren ja nicht nur nach Willingen, sondern auch zum Beispiel nach Kassel zum Spielen." In der Zwischenzeit treffe er sich in Bonn mit seiner Spielegruppe, immer freitags. Manchmal auch über Silvester in den Niederlanden: "Wir mieten uns dann mehrere Häuser, eines für die Eltern, eines für die Kinder und eines nur um zu spielen." Das ständige Auf- und Abbauen wäre zu umständlich. "So kann man doch alles stehen und liegen lassen und am nächsten Tag direkt wieder loslegen."

1985 hatte Hans-Christian Winters, ehemaliges Mitglied der Jury "Spiel des Jahres", die Idee zum Spieletreff in Willingen. Anfangs reisten gerade 50 Gäste an, gespielt wurde von Freitag bis Sonntag. Heute ist es die dreifache Menge an Spielern, zehn Tage lang. Seitdem kommen sie aus Hamburg, Berlin, Leipzig, manche sogar aus Luzern in der Schweiz und aus den USA. Alle mit einem Ziel: die Neuheiten der Spielemessen aus Nürnberg und Essen zu testen. Wer nicht rechtzeitig bucht, landet auf der Warteliste. Rechtzeitig heißt in diesem Fall: ein Jahr vorher. Doch nicht nur die Anzahl der Gäste ist gestiegen, auch Verlage haben diese Treffs, wie es sie bundesweit gibt, entdeckt und spenden immer mehr Spiele. Dieses Mal sind es 151.

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Spiele stapeln sich bis zu einem halben Meter

Wie auch im Empfangsbereich des Hotels in Willingen schnell deutlich wird. Rechts neben der Rezeption stehen drei Konferenztische hufeisenförmig angeordnet. Jeder knapp zwei Meter lang und einen Meter breit. Von der Tischdecke in rotem Stoff ist nur noch wenig zu sehen. Denn die Spiele stapeln sich dicht an dicht bis zu einem halben Meter in die Höhe. Wer sich eines dieser Spiele aus dem Stapel zieht, muss sich in eine Liste eintragen. "Dirk Strelow" taucht gleich dreimal auf.

Er sitzt im zweiten Stock in einem schlauchartigen Konferenzraum hinter dem Restaurant. Die lange Fensterfront gibt das nächtliche Panorama preis. Straßenlaternen leuchten die wenigen Häuser an, dahinter heben sich fast schwarz die Hügel vor dem sternenklaren Himmel ab. Astronomen würden ihre Teleskope sofort aufbauen. Dirk ist Spieler. Dafür hat er jetzt keinen Blick. Er sitzt an einem der 40 Tische, die Augen auf das Spielbrett vor sich geheftet. Er ist in einer anderen Welt. Genauer: in der Welt von 1289, mitten in Frankreich in einem kleinen Städtchen namens "Caylus".

Der Frieden zwischen England und Frankreich ist nicht von Dauer. Um seine Grenzen zu festigen, entschließt sich der französische König Philipp IV., ein neues Schloss errichten zu lassen. Das Dorf entwickelt sich zu einer Stadt. Parkanlagen, Häuser, sogar Kathedralen entstehen, und Caylus wird zu einem Magneten für Handwerker, Geschäftsleute und Baumeister, wie Dirk einer ist. Der Handel mit Holz, Steinen und selbst Gold floriert. Den neuen Einwohnern geht es dabei vor allem um eins: um Prestige und um die Gunst des Königs.

"Will noch jemand das Steinchen bewegen?"

Um diese werben neben Dirk noch zwei weitere an diesem Tisch. Willi, ein etwas hagerer Typ um die 60, und Erika, seine Frau. "Will noch jemand das Steinchen bewegen?", fragt Willi. Das Steinchen heißt eigentlich Vogt. Seine Position in der Ortschaft entscheidet, in welchen Gebäuden die Baumeister arbeiten dürfen - und somit Prestige ergattern können. Dirk nickt. "Um zwei nach hinten, bitte." Als Willi den Vogt verschiebt, verschränkt Erika die Arme vor der Brust. Dirk zuckt wie zur Entschuldigung mit den Schultern, sammelt seine Figuren wieder ein, rückt sie zurecht. Dann taucht er wieder ab in seine Welt. "Beim Spielen schlüpfen wir in eine Rolle, in der es auch um Selbstinszenierung geht", sagt Joachim Renn, Direktor des Instituts für Soziologie an der Uni Münster. "Dann vergessen wir alles, weil wir Arbeit und Freizeit voneinander trennen. Wir kompensieren dann Aufgestautes und entspannen uns." Vor allem, wenn wir siegen.

"Das gibt uns zusätzlich ein gutes, wenn nicht erhabenes Gefühl." Aber dazu brauche man eine Gemeinschaft. Dies sei ein weiterer Grund, weshalb Menschen so gerne spielen, sagt Renn. Das Beisammensitzen mit Gleichgesinnten. "Der Übergang in die Spielsituation und die entsprechende Gemeinschaft bedeutet aber nicht, dass wir von den Regeln des ernsten Lebens befreit sind." Siegen sei eben befriedigend in einer sozialen Umwelt, in der es eine Verpflichtung auf Konkurrenz gebe. Und Siegen mache vor allem Spaß, wenn es gute Spiele seien. Was gute Spiele sind, hat der Spieleentwickler Reiner Knizia in einem Interview mal so formuliert: "Kurze Spielanleitung, einfacher Zugang, rege Interaktion zwischen den Leuten und keine Phasen, wo ein Spieler nichts zu tun hat."

Spielwarenbranche wächst

Im "Waldmariechen", der Bar des Hotels, hängt eine Rauchglocke über einer Runde Männer. Sie spielen Poker. Der Barkeeper wechselt den Aschenbecher, aus dem die Zigarettenstummel fast rausfallen, und bringt bereits die fünfte Bestellung Bier. Die Männer sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, sie machen nicht den Eindruck, als würden sie sich zum ersten Mal begegnen. Und dennoch kannte sich vor der Partie niemand. "Es liegt an dem Miteinander hier. Alle sprechen sich beim Vornamen an, und was du beruflich machst, ist hier eigentlich nicht so wichtig", sagt einer der Runde.

Die Spielwarenbranche wächst, das zeigt nicht nur der Treff in Willingen. Laut dem Marktforschungsinstitut "Eurotoys" könnte 2011 ein Rekordjahr werden: Das aufgelaufene Jahresplus liegt derzeit bei drei Prozent, so der Bundesverband Spielwareneinzelhandel. Das bedeutet: Die Marke von 2,6 Milliarden Euro könnte noch bis Jahresende erreicht werden. Das hatte man selbst im Krisenwunderjahr 2009 nicht geschafft. Damals lag der Umsatz bei 2,4 Milliarden Euro. Deutschland liegt damit im internationalen Vergleich der Spielzeugproduzenten auf Platz sechs - weltweit werden auf dem Spielwarenmarkt knapp 84 Milliarden Dollar umgesetzt. Wie die aktuelle Statistik von "Eurotoys" weiterhin zeigt, spielen besonders immer mehr Erwachsene Brett- und Gesellschaftsspiele.

Hotel wie ein riesiger Spielplatz

Das Hotel gleicht in diesen Tagen einem riesigen Spielplatz. Ohne Sand und Schaukel, dafür mit Plüschwürfeln, überdimensionierten Monopoly-Kärtchen und Schachfiguren, die in jede Ecke dekoriert sind, und einem Rätsel, das gleich am Eingang des Hotels die Gäste in ihren Bann zieht. Um eine Säule baumeln von der Decke 20 Baumwollfäden hinab, an dessen Ende Schablonen hängen mit ausgestanzten Löchern. "Die Schablonen stammen von Spielen, die wir letztes Jahr hier hatten", sagt die Rezeptionistin. "Vielleicht schaffen Sie es zu erraten, von welchen?" Immerhin: Als Gewinn winkt ein Wochenende in Paris, Barcelona oder London. Ein kurzer Blick. Zu schwer.

"Mein Rekord liegt bei 14. Die meisten davon habe ich auf Anhieb erkannt", sagt Dirk. Wieder fragt Willi: "Möchte jemand das Steinchen verschieben?" Wieder nickt Dirk. Diesmal wandert der Vogt um drei Felder nach vorn. Das gibt zwei Holz, ein "Schweinchen" - rosafarbene Steinchen sind Nahrung - und vier Prestigepunkte. Genützt hat es ihm trotzdem nichts. Nach dreieinhalb Stunden hat Willi die meiste Gunst des Königs erworben. "Caylus" sei halt sein Spiel, sagt er. "Erika und ich spielen es auch zu Hause ständig. Langweilig wird uns dabei nie."

Es ist mittlerweile halb zwei in der Nacht. Am Nachbartisch öffnen zwei Männer gerade ein neues Spiel.

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