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„Energy Eddy“Vom Profisportler zum Pflegefall

Lesezeit 7 Minuten
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„Energy Eddy“ Gutknecht im Kampf gegen Jürgen Brähmer im März 2016.

Berlin – Wo liegt die Grenze, an der aus gesundem ein kranker Sport wird? Wo löst falscher Ehrgeiz notwendigen ab? Wer trägt Verantwortung, wenn Athleten verunglücken? Solche ernsten, solche tiefgreifenden Fragen hatte Julia Gutknecht bis zu jenem Abend im November vor einem Jahr meist verdrängt.

Seine Frau hatte kein gutes Gefühl

Sie saß damals zu Hause in Westerbeck bei Gifhorn (Niedersachsen) vor dem Fernseher, die drei kleinen Kinder lagen im Bett. Sie hatte kein gutes Gefühl bei diesem Boxkampf, der gerade lief. In der siebten Runde schaltete sie aus. Sie betete für ihren Mann: Lieber Gott, lass Eddy unverletzt bleiben. Bitte!

Eduard Gutknecht kämpfte damals in der Wembley Arena gegen den Briten George Groves um einen Interimstitel des Boxverbandes WBA im Supermittelgewicht. Er wollte sich für einen Weltmeisterschaftskampf empfehlen. Aber es sollte der letzte Boxkampf für Eduard Gutknecht werden.

Er war damals 34 Jahre alt. In der Boxszene wurde er „Energy Eddy“ genannt. Gutknecht musste an diesem Abend eine Menge einstecken. Groves hatte Dampf in den Fäusten und Kondition.

Gutknecht kämpfte verletzt weiter

Doch Energy Eddy ist keiner, der aufgibt. Er lag hoffnungslos zurück, aber er boxte weiter. Runde für Runde. Weiter, als Grove ihn über dem rechten Auge traf. Weiter, als Blut aus der Wunde tropfte. Weiter, als sein Augenlid anschwoll. Ihm blieb nur ein Sehschlitz.

Nach den zwölf Runden, die er deutlich verlor, hörte Julia Gutknecht nichts mehr von ihrem Mann. Obwohl er nach Kämpfen immer anrief. Er ging nicht ans Handy. Stattdessen verlangte er im Bauch der Wembley Arena nach der Teamärztin.

Seine Schuhe konnte er nicht mehr ausziehen. Ein Teamkollege hob seine Beine aufs Sofa. So hat es Julia Gutknecht dem Portal boxenplus.de erzählt; es ist das einzige Interview, das sie gegeben hat.

Ihr Mann habe über Kopfschmerzen geklagt. Er zitterte, verdrehte die Augen, wurde bewusstlos. Nach der Erstversorgung durch Sanitäter wurde Eddy ins St. Mary's Hospital gefahren. Nachts um ein Uhr erfuhr seine Frau: Gehirnblutung. Notoperation. Sie wusste nicht, ob Eddy überleben würde.

Die Familie hatte nicht vorgesorgt

Die Familie war nicht vorbereitet auf so eine Situation. Hätte sie es sein müssen? Hätte der Ringrichter den Kampf, in dem Gutknecht chancenlos war, abbrechen müssen? Hätte Gutknechts Trainer Hartmut Schröder vom Berliner Wiking-Boxstall das Handtuch werfen müssen? Gutknechts Promoter Winfried Spiering, ein breitbeiniger Lederjacken-Typ erzählte, in der Kabine habe Eddy zu ihm noch gesagt: „Mensch, in der zehnten Runde habe ich mich noch super gefühlt.“

Wer trägt die Verantwortung, wenn Athleten verunglücken? Was passiert mit den Profis, wenn sie vom Bildschirm verschwinden? Wenn sie der Unterhaltungsindustrie verloren gehen? Julia Gutknecht kennt jetzt die Antworten. Wobei sich solche Fragen nicht nur im Boxsport stellen.

Profisportler leben mit hohem Risiko

Vor einer Woche starb der 17 Jahre alte Skirennfahrer Max Burkhart aus Garmisch-Partenkirchen, wenige Tage zuvor kam der Franzose David Poisson bei einem Sturz zu Tode. Die Turnerin Elisa Chirino aus Berlin sitzt seit einem Fehler am Stufenbarren im Rollstuhl. Im Skispringen, Rad- oder Motorsport gehört das Unfallrisiko zum Nervenkitzel.

Und Verschleiß, der die Körper von Profisportlern schleichend lädiert, zeigt oft drastische Folgen. Wer während der Hommage zum 50. Geburtstag von Boris Becker gesehen hat, wie sich Deutschlands Tennisheld nach zahlreichen Fuß- und Hüftoperationen über das Trottoir schleppt, kann nachvollziehen, wie hoch der Preis ist, den die Weltbesten ihrer Disziplinen bezahlen.

Und auch diejenigen, die es erst noch werden wollen. Wie Eduard Gutknecht, der große WM-Börsen nie kassiert hat. Nach mehreren Schlaganfällen, fünf Wochen im Koma und einem halben Jahr in einer Reha-Klinik kam er im September nach Westerbeck zu seiner Frau und den Kindern zurück. Als Pflegefall, Stufe vier.

Er wird nie mehr selbstständig leben können

„Energy Eddy“ kann nicht gehen. Er begann nach vier Wochen zu Hause, erste Worte zu sprechen. Selbstständig wird er wohl nie mehr leben. In eine Berufsgenossenschaft hat er nie eingezahlt; seine Frau sagt, für Boxer gebe es keine. Und eine durch den Boxsport finanzierte Rente bekomme er auch nicht.

Was sie verkaufen konnte, hat sie verkauft. Das Haus rollstuhlgerecht umzubauen, kostete 50000 Euro, der elektrische Rollstuhl mit Hebefunktion 29000 Euro. Eddys Eltern helfen, seine Geschwister Irina und Alexander, Schwiegermutter, Schwägerin.

Eddy kam 1995 nach Niedersachsen – aus Kasachstan. Er war 13. An einem Winterabend, am 9. Dezember vor 22 Jahren, entdeckte er etwas Aufregendes. Im Fernseher bekam er mit, was 18,3 Millionen deutsche Boxfans elektrisierte: Axel Schulz kämpfte gegen Francois Botha um den WM-Titel. Eddy beschloss: Ich werde Boxer.

Eine Ausbildung sollte absichern

Für den BC Gifhorn bestritt er 157 Amateurkämpfe. Obwohl er später Europameister bei den Profis wurde und eine Zeit lang bei Ulli Wegner in Berlin trainierte, schloss Gutknecht bei VW eine Ausbildung zum Industriemechaniker ab. In Potsdam absolvierte er ein Studium an der FH für Sport und Management.

Für die Zeit nach dem Boxen sollte vorgesorgt sein. Jetzt müssen andere für ihn sorgen. Seine Frau geht stundenweise arbeiten. Der Familie helfen Spenden-Events wie jenes, bei dem sein alter Freund Vitali Boot vor ein paar Wochen mithalf.

Boot kennt Eddy vom BC Gifhorn. „ Er war mit Abstand der fleißigste Boxer des Vereins“, sagt der Mann, der sieben deutschen Meistertitel und eine WM-Bronzemedaille gewonnen hat. Vor ein paar Wochen stand Boot also in der Gifhorner Sporthalle Süd in Anzughose, weißem Hemd und Fliege als Ringrichter im Seilgeviert. Die IG Metall Wolfsburg hatte zugunsten von Gutknecht ein Benefiz-Boxen organisiert.

Benefiz-Boxen für Gutknecht

Auf der Tribüne saßen junge Männer mit aufgepumpten Oberarmen und ältere Damen, die ihre Locken für ein Selfie mit Boxtrainer Ulli Wegner zurechtschüttelten. 1000 Zuschauer, viele aus Gifhorn, einige von weit her angereist. Der Hauptkampf zwischen Uwe Hück, Porsche-Betriebsratschef und früherer Thaiboxer, und Firat Arslan, ehemaliger Box-Weltmeister im Cruisergewicht, hatte Anziehungskraft.

Am Ring sammelten sich Prominente: der Schauspieler Heinz Hönig, der Unternehmer Martin Kind, Box-Legenden wie Axel Schulz und der amtierende Weltmeister im Mittelgewicht, Gennadi Golowkin, den Gutknecht als Amateur mal besiegt hat.

In der Nebenturnhalle, wo es Gulaschsuppe und Brötchen gab, saß Julia Gutknecht allein auf einer Bierbank. Sie hatte ihren Mann zu Hause gelassen. Sie weinte. Sie wollte nicht mit Journalisten sprechen. In der Halle nebenan gingen die Scheinwerfer an, die Ringglocke läutete den ersten Vorkampf ein.

„Wir schauen keine alten Bilder an“

„Das ist Eddys früheres Leben. Wir hätten nicht gedacht, dass es uns so mitnimmt“, sagte seine Schwester Irina. „Wir schauen uns nicht die alten Bilder von ihm an. Wir schauen nur nach vorne. Eddy kann wieder lachen. Er kann die linke Hand bewegen, auf etwas zeigen, mit der linken Hand essen. Wir werden bis zum Schluss für ihn kämpfen.“ Dann nahm sie ihre Schwägerin in den Arm.

An diesem Abend wurden alle Kämpfe unentschieden gewertet, weil Gutknecht der einzige Sieger sein sollte. Die Gemeinschaft war spürbar in der Sporthalle Süd. Die Solidarität. All diejenigen, die es im Sport nie bis in die Weltspitze geschafft und ihre Körper trotzdem kaputt gemacht haben, all diejenigen, die niemand kennt und für die es keine Benefiz-Abende gibt, waren irgendwie mit eingeschlossen.

In einem Milieu, in dem Muskeln als Panzer wirken und in dem der Stärkere gewinnt, gab der frühere Boxweltmeister Robert Stieglitz zu, er habe gerade vor Gutknechts Haustür gestanden und nicht den Mut gefunden, auf die Klingel zu drücken. Schwäche ist menschlich. Schwäche verband an diesem Abend alle, die dabei waren.

Vom früheren Boxstall kam niemand

Vom Berliner Wiking-Boxstall kam niemand. Die Gutknechts haben keinen Kontakt mehr zu Eddys früherem Promoter. Insgesamt kam eine hohe fünfstellige Summe zusammen. Am vorigen Samstag auf der „Champions Gala“ in Berlin – im Rahmen der Ehrung der Sportler des Jahres waren es etwa 51000 Euro.

Für kurze Zeit hilft der Familie das über die finanzielle Lücke. Aber was ist in fünf, in zehn Jahren? „Es gibt eine Berufsgenossenschaft für Boxer. Aber so eine freiwillige Versicherung abzuschließen, war für mich immer indiskutabel. Einfach nicht finanzierbar bei dem, was ich als Berufsboxer eingenommen habe“, sagte in Gifhorn Firat Arslan.

„Zusammen mit Stuntmen sind wir in der höchsten Risikogruppe. Aber Boxen ist nicht Fußball. Die wenigsten von uns können davon leben. Deshalb haben die wenigsten Boxer so eine Versicherung. Es ist blauäugig. Aber es ist so.“

Vitali Boot war nachdenklich an jenem Benefiz-Abend in Gifhorn. Er erzählte: „Eddy war geradlinig, im Leben vernünftig. Ich kenne keinen, den er angelogen hat. Er war einmalig.“ Ein junger Boxer, der neben dem Mann in Hemd und Fliege stand, verbesserte seinen Trainer. „Er IST einmalig.“ Boot schluckte. „Ja, danke. Er ist einmalig. Eddy braucht komplette Betreuung. Aber ich kenne Eddy. Er hat im Leben noch nie aufgegeben.“

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