Psychische Gesundheit im Sport„Entstigmatisierung hat nicht überall stattgefunden“

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Robert Enke im DFB-Trikot

Robert Enke litt über Jahre an schweren Depressionen. Vor der Öffentlichkeit, Mannschaftskollegen, Trainern und Betreuern verheimlichte Enke seine Erkrankung.

Köln – Niemand spricht gerne öffentlich darüber, wenn die eigene Welt im Dunkel versinkt und Ängste und Sorgen den Tag trüben; wenn wir Fehler eingestehen müssen, enttäuscht sind, von uns oder anderen. Es sind Phasen, die kommen und gehen. Bei einem Menschen der depressiv erkrankt ist, ist das anders. Betroffene können die dunkle Wolke, die über ihrem Leben hängt, nicht einfach wegschieben. Wie ein gebrochener Arm von einem Spezialisten geheilt werden muss, muss auch eine Depression von einem Arzt behandelt werden.

Beratung und Seelsorge in schwierigen Situationen

Kontakte | Hier wird Ihnen geholfen

Wir gestalten unsere Berichterstattung über Suizide und entsprechende Absichten bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details. Falls Sie sich dennoch betroffen fühlen, lesen Sie bitte weiter:

Ihre Gedanken hören nicht auf zu kreisen? Sie befinden sich in einer scheinbar ausweglosen Situation und spielen mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Wenn Sie sich nicht im Familien- oder Freundeskreis Hilfe suchen können oder möchten – hier finden Sie anonyme Beratungs- und Seelsorgeangebote.

Telefonseelsorge

Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichen Sie rund um die Uhr Mitarbeiter, mit denen Sie Ihre Sorgen und Ängste teilen können. Auch ein Gespräch via Chat ist möglich. telefonseelsorge.de

Kinder- und Jugendtelefon

Das Angebot des Vereins "Nummer gegen Kummer" richtet sich vor allem an Kinder und Jugendliche, die in einer schwierigen Situation stecken. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter 11 6 111 oder 0800 – 111 0 333. Am Samstag nehmen die jungen Berater des Teams "Jugendliche beraten Jugendliche" die Gespräche an. nummergegenkummer.de

Muslimisches Seelsorge-Telefon

Die Mitarbeiter von MuTeS sind 24 Stunden unter 030 – 44 35 09 821 zu erreichen. Ein Teil von ihnen spricht auch türkisch. mutes.de

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention

Eine Übersicht aller telefonischer, regionaler, Online- und Mail-Beratungsangebote in Deutschland gibt es unter suizidprophylaxe.de

Auf dramatischste Weise hat der Fall von Robert Enke 2009 offengelegt, wohin es führen kann, wenn Betroffene sich keine professionelle Hilfe suchen. Die Angst, als Leistungssportler Schwäche zu zeigen, als anfällig zu gelten und von keinem Trainer mehr aufgestellt zu werden, hatte Enke davon abgehalten in eine Klinik zu gehen. Heute arbeitet ein breites Netzwerk an Stiftungen, Ärzten und Organisationen daran, dass sich niemand mehr dafür schämt, psychisch krank zu sein, dass Betroffene ernst genommen und angehört werden. Ein Netzwerk, das es vor elf Jahren, als Robert Enke starb, noch nicht gab.

Sportpsychologen stehen zwischen Leistungsanspruch und Fürsorgepflicht

Leistungssportler befänden sich häufig „in einem Grenzbereich der psychischen und körperlichen Belastbarkeit“, sagt Moritz Anderten, sportpsychologischer Experte des 1. FC Köln. Der 39-Jährige Sportwissenschaftler ist für das sportpsychologische Angebot im Nachwuchsleistungszentrum und bei den Profis verantwortlich. Beim Dachverband der deutschen Sportpsychologen, der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie, hat er ein Jahr lang eine Zusatzausbildung durchlaufen. Mit ein bisschen „Tschacka Tschacka und über heiße Kohlen laufen“, habe seine Arbeit nichts zu tun, stellt er klar. Seine Aufgabe ist es dafür zu sorgen, dass die Sportler mit den Belastungen, die der Leistungssport mit sich bringt, möglichst gut umgehen können.

Eine Gratwanderung.

Denn Teil seiner Arbeit ist es auch, die Spieler dahin zu führen, dass sie ihre maximale Leistung abrufen können. Er bereitet sie auf Wettkämpfe und Spielsituationen vor; er unterstützt sie dabei, den Elfmeter ins Tor zu bekommen, die Nervosität vor dem Spiel zu kontrollieren und individuelle Schwächen zu mindern. Gleichzeitig hat er eine Fürsorgepflicht. „Wie weit können wir gehen? Wie muss das Training verändert werden, um die Gesundheit der Spieler zu schützen?“ – auf diese Fragen muss er Antworten finden. Dazu ist er bei Spielen und beim Training dabei und berät die Spieler – auf Wunsch – auch einzeln. Dabei geht es „nie um Selektion“, sagt er. Er unterliegt der Schweigepflicht – auch gegenüber dem Trainer und dem Verein.

Robert Enke war mit der Veranlagung zu Depressionen in den Sport gekommen. Es war nicht die Branche, die ihn krank gemacht hat. Aber der Profifußball mit seinem Konkurrenzkampf, der unerbittlichen Selektion, dem Druck, sich täglich vor Trainer, Medien und Mannschaft beweisen zu müssen, war für ihn ein schwieriges Umfeld.

27,8 Prozent der Erwachsenen von psychischen Erkrankungen betroffen

Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde geht davon aus, dass Sportler genauso häufig Depressionen, Angststörungen oder Suchterkrankungen haben, wie andere Menschen auch. Rund 27,8 Prozent der Erwachsenen sind jedes Jahr betroffen. Psychische Krankheiten können genetisch bedingt sein oder durch Erlebnisse und Schicksalsschläge ausgelöst oder verstärkt werden. Betroffene erleiden depressive Phasen, zwischen denen es ihnen über Jahre sehr gut gehen kann. Wird die Krankheit erkannt, ist sie gut behandelbar.

Sportpsychologen, die ein Auge auf die mentale Gesundheit der Spieler haben, sind im Profibereich noch eine Seltenheit. Nach einer nicht repräsentativen Erhebung der Vereinigung deutscher Vertragsspieler (VDV) aus dem März 2020 bieten fünf von insgesamt 56 Vereinen der Ersten bis zur Dritten Liga ihren Spielern eine professionelle sportpsychologische Betreuung an. Seit 2018 ist jedes Nachwuchsleistungszentrum in Deutschland verpflichtet, für die jungen Spieler ein sportpsychologisches Angebot bereit zu halten. Der Standort in Köln ist mit seinem Programm bundesweit einer der Vorreiter.

Fördern der Persönlichkeit von Nachwuchsspielern

Rund zehn Sportpsychologen arbeiten beim 1. FC Köln ab den U8-Mannschaften mit den Nachwuchsspielern – an der Leistung, aber auch an der Persönlichkeitsentwicklung. „Wir schauen, was passiert im Leben dieser jungen Menschen, welche Entwicklungen gibt es und wo brauchen sie, neben dem Sport, Hilfe. Wir vermitteln ihnen im Jugendalter Themen, von denen die Sportpsychologie der Meinung ist, das müssen sie können, um später mit den Herausforderungen umgehen zu können“, erklärt Anderten. Ab der U15 werden die Spieler mit individuellem Coaching unterstützt. Rund 600 Stunden Einzelbetreuung pro Saison leisten die Sportpsychologen im Nachwuchsleistungszentrum am Standort Köln.

Im Profibereich ist der Schwerpunkt ein anderer. Dann geht es um Leistung. Der Auftrag für Anderten und seine Kollegen bleibt aber der gleiche. „30 oder 17 Jahre alt – ich schaue, was belastet den Spieler, was könnte die Leistung hemmen? Nach außen ist zu sehen, er hat nicht gut gespielt. Aber oft ist das gar nicht das Thema. Im Hintergrund beschäftigt den Spieler etwas anderes und das wirkt sich auf seine Leistung aus. Wir begleiten die Jungs auf dem Weg, für sich Lösungen zu finden.“

Anderten muss selbst abwägen, wo seine Kompetenz endet. „Bemerke ich Auffälligkeiten, wie etwa länger anhaltende Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit oder Hinweise auf Ängste, Zwänge und Depressionen, komme ich als sportwissenschaftlich ausgebildeter sportpsychologischer Experte in einen Grenzbereich, in dem ich abwägen muss, ob ich den Fall an Netzwerke wie »Mental gestärkt« abgebe, die an Psychologen, Ärzte und Therapeuten weitervermitteln können“.

„Das Thema psychische Gesundheit ist sichtbarer geworden“

Marion Sulprizio, Diplom-Psychologin und Sportpsychologin im Kölner Nachwuchszentrum, ist eine der Gründerinnen von „Mental gestärkt“. Die Initiative besteht seit 2011, ist an die Sporthochschule Köln angeschlossen und kooperiert auch mit der Robert-Enke-Stiftung. Bei „Mental gestärkt“ melden sich Leistungssportler, denen es nicht gelingt, unter Druck ihre Leistung abzurufen. Manche fühlen sich niedergeschlagen, kommen nicht aus dem Bett. Es gibt Konflikte mit dem Trainer, dem Internatsleiter oder Mitspielern. Die Krankheitsbilder reichen von Essstörungen und Sportsucht bis hin zu Schizophrenie und Angststörungen. Sulprizio vermittelt Betroffene an Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiater. Trainern bietet das Netzwerk „Mental gestärkt“ Fortbildungen im Bereich psychische Gesundheit an.

„Es hat sich ganz viel getan. Das Thema psychische Gesundheit ist sichtbarer geworden“, sagt Sulprizio. Trotzdem sei man noch immer mitten im Prozess: „Die Akzeptanz und Entstigmatisierung hat noch nicht überall stattgefunden.“ Nachholbedarf sieht sie bei der Frage, wie erkrankte oder genesene Spieler wieder in das Team eingebunden werden können. „Bei einem Kreuzbandriss ist es klar, dass man ein Jahr raus ist. Bei einer psychischen Erkrankung kann das genauso lange dauern. Aber meist bekommen die Spieler dann nicht die gleiche Erholungszeit“, sagt sie. Stattdessen würden die Athleten „mit dem Gefühl kämpfen, von Trainern und anderen Sportlern komisch angeschaut zu werden.“

Dabei sei die Integration ins Team – auch für die Heilung – dringend notwendig. Letztlich liege die Gesundheit der Spieler im Eigeninteresse des Klubs. Und nur, wenn die persönliche und psychologische Entwicklung nicht „mit den Füßen getreten wird“, könne ein Mensch seine volle Leistung abrufen.

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