25 Jahre nach Tour-SiegExtreme und Rückschläge: Die drei Leben des Jan Ullrich

Lesezeit 6 Minuten
Jan Ullrich mit Fahne

Paris, 27. Juli 1997: Jan Ullrich, hier auf der Ehrenrunde, hat soeben die Tour de France gewonnen.

Köln – Jan Ullrich führt mittlerweile sein drittes Leben. Das erste spielt in der Vergangenheit und betrifft seine Zeit als Sport-Held, als Deutschlands erster Tour-de-France-Sieger im Juli 1997. Ullrich war ein Jahrzehnt der Fernsehstar des Sommers innerhalb eines dreiwöchigen Fortsetzungsromans auf Frankreichs Landstraßen, zunächst die Sensation in Gelb, später die Hoffnung auf einen Erfolg gegen eine Mensch-Maschine aus Texas, die er in der Gesamtwertung nie bezwingen konnte. Das zweite Leben hat auch mit der Vergangenheit zu tun, der Zeit nach dem Rücktritt 2007, nachdem er zuvor, fassungslos vor Entsetzen, 2006 seinen Tour-Ausschluss kommentieren musste. 2018 sei er auf demselben Weg gewesen wie sein einstiger Konkurrent Marco Pantani, der an einer Überdosis Kokain starb, heimgesucht von Depressionen. Ullrich sagt zu dieser Phase: „Ich war selbst fast tot.“ Sein aktuelles Leben ist nun die Quintessenz aus all dem.

Gesund im Juli 2022

Es lässt sich sagen, dass Jan Ullrich derzeit bestens aussieht. Schlank. Durchtrainiert. Gesund. Zufrieden. So präsentierte er sich Anfang Juli bei Instagram im Raddress vor einem grünen Rennrad daheim neben einem Maisfeld in den Anstiegen rund um Merdingen am Tuniberg nahe Freiburg im Breisgau.

Den Startern der aktuellen Tour de France wünscht er in einem kurzen Video von Anfang Juli viel Glück. Und er bedankt sich für die vielen Nachrichten rund um die ARD-Dokumentationen, die es als Serie zu sehen gibt („Being Jan Ullrich“ von Uli Fritz und Ole Zeisler, ARD-Mediathek) und die als noch ausführlicherer Podcast zu hören ist („Jan Ullrich. Held auf Zeit“ von Moritz Cassalette, ARD-Audiothek).

Beide Arbeiten sind aus Anlass des 25. Geburtstags von Ullrichs Tour-Triumph entstanden, noch dazu gleich zwei Biografien. In der einen Lebensgeschichte befasst sich der Journalist Sebastian Moll (Buchtitel „Ulle“) mit den Auswirkungen von Druck und Stress auf das Leben eines Leistungssportlers – vor allem nach der Karriere. Die andere hat der Brite Daniel Friebe geschrieben, und sie ist ein Meisterwerk, das leider nur auf Englisch zu haben ist: „Jan Ullrich. The best there never was“ – ein epischer Titel, der allein schon beschreibt, was Ullrichs Karriere ausmacht: „Der Beste, der er nie war“.

Der Beste, der er nie war

Das setzt zwei Dinge voraus, über deren Wahrheitsgehalt es keine Zweifel gibt: Dass Ullrich tatsächlich der Beste in seiner Zeit war. Was er aber eben nicht immer zeigen konnte. Weil er Jan Ullrich war. Eine Persönlichkeit, die in Extremen lebt und diese eben nicht immer zähmen konnte, im Sinne der Sache. Das Ausleben der Extreme war ihm wichtiger. Friebe hat fast ein Jahrzehnt an seinem Text geschrieben, seine Recherche ist großartig. Er trifft und besucht im Grunde jeden Begleiter, den auch Ullrich in seinem Leben getroffen hat. Von der Mutter bis zu seinen Ersatzvätern, den Teammitgliedern und seinen neuen Freunden Dirk und Mike Baldinger in Merdingen, die ihn gerettet haben. Friebe trifft alle. Außer Jan Ullrich selbst, das ging auch der ARD so.

Exklusivvertrag mit einer Filmfirma

Friebe arbeitet Begegnungen von einst mit ein, die ARD zeigt Archivperlen. Uli Fritz erzählt, dass Ullrich einen Exklusivvertrag mit der Firma Constantin-Film besitze, der es ihm bis zur Ausstrahlung eines Ullrich-Films oder einer Ullrich-Serie untersagt, mit anderen Medien zu sprechen. Gezeigt werden soll das Werk im kommenden April, wie zu hören ist.

Doch alle drei, die Filmemacher Fritz und Zeisler sowie Friebe trafen den Texaner Lance Armstrong, Ullrichs Widerpart, ewiger Gegner und, ja, auch Idol. Nun stellt sich heraus, dass es Armstrong genauso geht: „Ich liebe Jan Ullrich.“ Der sei der Mann gewesen, der sein Leben als Athlet geprägt habe, sagt Armstrong: „Er machte mich besser. Wegen ihm bin ich früh ins Bett gegangen und früh wieder aufgestanden.“

Die nicht verwandten Baldingers, Dirk ist ein Ex-Profi, Mike ein Merdinger Bürger, der Ullrich lange kennt, haben in Ullrichs größter Krise im August 2018 Armstrong kontaktiert. „Du bist der letzte Anruf, Lance, nur du kannst noch helfen“, sagten die Deutschen dem Mann aus den USA.

Lance Armstrong taucht auf

Weil sie richtig mutmaßten, dass Ullrich auf Armstrong hören werde. Und Armstrong half, flog im Privatjet nach Deutschland, um Ullrich in Bad Brückenau während dessen Entzugs-Therapie zu treffen und flog auch nach Cancun in Mexiko, wo Ullrich nach einem Rückfall während eines Kuba-Urlaubs kurz vor Weihnachten 2021 gestrandet war. Das sei das allerschlimmste, was er je gesehen habe, sagt Armstrong, Ullrich sei erneut fast tot gewesen, Alkohol und Drogen im Körper, gefesselt an ein Bett, vergiftet, wieder mal ein Extrem auslebend. Wie 2018, als Ullrich sich im Alkohol- und Drogenrausch als Weltmeister der Raucher bezeichnete – 999 Zigaretten an einem Tag.

Diese extremen Ausschläge prägen sein Leben, dessen sind sich die Baldingers bewusst. Ob Armstrong wirklich so uneigennützig hilft, wie er vorgibt oder ob er als PR-Profi die Chance wittert, sein Image in Deutschland auf Ullrichs Kosten aufzubessern, ist allerdings offen.

Ullrich, der Grenzgänger

Ein anderer Ullrich-Freund, Frank Wörndl, einstiger Slalom-Weltmeister, bezeichnet Ullrich als Grenzgänger. Das Wunder an diesem Menschen sei dessen Körper, der so viel verzeihe. Ullrichs Ess-Attacken, den Alkohol- und Drogenkonsum. Ein Körper, der ihn zu Höchstleistungen trieb und zu legendären Erfolgen, etwa am 15. Juli 1997, als sich Ullrich nach einem famosen Bergaufsprint nach Andorra-Arcalis ins Gelbe Trikot katapultierte, das er bis Paris nicht mehr hergab. Nach einer unnötigen Niederlage gegen Pantani 1998 folgten die Armstrong-Jahre, lauter mit Verzweiflung verbundene Rückschläge eines Mannes, den Armstrong selbst als das größte Talent von allen bezeichnete.

Schließlich 2006 das Tour- Aus vor dem Start, wegen Ullrichs Verstrickung in den Fuentes-Doping-Skandal. Ullrich hätte diese Tour mit einem Bein gewonnen, davon gehen alle Beteiligten von damals aus. Doch er musste abreisen, was ihn in eine tiefe seelische Krise stürzte. Von der er sich durch offene Worte bezüglich seines Doping-Konsums hätte befreien können. Darauf aber verzichtete er, um nicht einen Tour-Sieg von 1997 zu verlieren, sein Ein und Alles.

Burnout, Depressionen, ADHS – Ullrich durchlebte viele Krisen in seinem zweiten Leben. Erst langsam fand er zurück in ein neues Dasein, das Rad half ihm dabei, vor allem aber seine Frau Sara und die drei gemeinsamen Söhne Toni, Max und Benno, die zwischen neun und 15 Jahre alt sind. Doch seine Frau verließ Ullrich 2017 mit den Kindern, die Extreme in Ullrich schlugen zu heftig aus. Nach langer Zeit des Sich-Verloren-Fühlens, des Verzagens und neuer Exzesse fand Ullrich dank der Baldingers wieder zu sich und zurück nach Merdingen. Dort lebt auch seine erste Tochter Sarah, geboren 2003, Sara und die Jungs sind in der Nähe.

Es scheint, als sei gerade alles ruhig und geregelt in Ullrichs Leben. Doch Dirk Baldinger sagt: „Ein Ausschlag ins Negative kann immer wieder passieren.“

KStA abonnieren