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„Das ist eine Form von Liebe“Bayer-04-Trainer Herrlich über Umgang mit Spielern

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Bayer-Coach Heiko Herrlich

Leverkusen – Herr Herrlich, als Sie Ende Mai hier vorgestellt wurden als Trainer aus der Dritten Liga, herrschte eine gewisse Skepsis. Wie hat sich das aus Ihrer Sicht angefühlt? Das war für mich nicht schlimm. Wie das fünfte Rad am Wagen habe ich mich nicht gefühlt. Es gibt doch so viele gute Trainer, auch in der Zweiten Liga und Dritten Liga und der Regionalliga.  Wichtig ist doch nur, dass es innerhalb des Vereins keine Zweifel gibt. Und da habe ich von Anfang an gemerkt, dass es passt. Nach den Gesprächen mit Rudi Völler, Jonas Boldt und Michael Schade habe ich einfach ein gutes Gefühl gehabt. Es wäre ja fahrlässig gewesen, wenn sie sich nicht auch nach anderen Kandidaten umgeschaut hätten.

Trotzdem war die Fallhöhe ungewöhnlich: Hier der dritterfolgreichste deutsche Klub der letzten zehn Jahre, da ein Trainer, der zwölf Monate zuvor noch in der Vierten Liga gearbeitet hatte. Ich nenne ein umgekehrtes Beispiel. Als ich damals in Bochum entlassen wurde, weil es nicht funktioniert hat, drei Spieltage vor Schluss auf dem Relegationsplatz der Bundesliga, da habe ich ein Jahr später freiwillig einen Drittligisten übernommen, der gerade seinen Hauptsponsor verloren hatte. Das war in Unterhaching, da war eine ältere U 19 am Start. Daran hatte ich unheimlich viel Freude.  Ich hätte sicherlich höher wieder einsteigen können. Aber für mich ist das größte Glück, dass ich überhaupt im Fußball arbeiten darf. Die Gefühle, mit Menschen und mit Mannschaften zusammenzuarbeiten, sind immer die gleichen – gemeinsam  etwas entwickelt zu haben.

Wie viel vom Spieler Heiko Herrlich steckt im Trainer Heiko Herrlich? All die Erfahrungen aus der Profizeit helfen mir. Ich bin als ganz junger Spieler hier mit 17 nach Leverkusen gekommen. Diese Geschichte erzähle ich immer wieder gerne. Erstes Trainingslager in Grünberg. Die anderen habe ich nur aus dem Fernsehen gekannt, musste um Akzeptanz kämpfen. Und am ersten Morgen war meine Zahnbürste abgeschnitten. Die Borsten. Ich konnte mir die Zähne nicht putzen. Ich bin zu Trainer Jürgen Gelsdorf gegangen und habe geheult und gesagt: „Die wollen mich hier rasieren.“ Der Trainer hat mich in den Arm genommen, gelacht und gesagt: „Mach dir keine Sorgen. Ich weiß genau, wer das war.“ Es war Dieter Trzolek, der damalige Physiotherapeut. Ich könnte tausend solcher Geschichten erzählen. Diese Erfahrungen haben mich geprägt.

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Und wie fließen die in die tägliche Arbeit ein? Ich weiß, wie die Spieler fühlen. Ich kenne den Druck, unter dem sie stehen und versuche, diese Erfahrungen mit einzubringen, sie zu nutzen auch als Trainer, bei der Führung der Mannschaft. Ich habe selbst drei Kinder und stelle mir oft vor: Wie würde ich mit denen umgehen, wenn da mein Sohn dabei wäre. Natürlich musst du auch ab und zu hart sein zu ihnen. Für mich ist das auch eine Form von Liebe, oder sagen wir Zuneigung. Es ist zwar eine andere als die zu deinem Partner oder zu deinen Kindern, aber du musst ihnen das richtige Gefühl geben. Das sind alles gute Jungs im Herzen, und sie hatten alle mal den Traum, ein großer Spieler zu werden und Titel zu gewinnen. Und dann kommen sie in diese Mühle rein.

Das ist doch eher ein Traum als ein schweres Schicksal... Ich habe das selbst erlebt, wie es ist, nicht gut zu spielen und die Erwartungen nicht zu erfüllen. Plötzlich bist du Profi, unterschreibst einen Vertrag und verdienst einen Haufen Geld. Und dann kommt Kritik, wenn es mal nicht so läuft. Diese Jungs sind noch nicht so reif wie ein 40-Jähriger, der mit so etwas klarkommen kann. Und wenn sie die Erwartungen nicht erfüllen wie letzte Saison hier, dann gehen sie nicht nach Hause und sagen: „Ist mir alles total egal, ich habe ein dickes Bankkonto.“ Die leiden auch darunter.  Eigentlich wollen sie etwas zurückgeben, aber sie schaffen es nicht.   

Nicht zu gewinnen, war eine Erfahrung, die ihre Mannschaft von der Vorbereitung bis in den September gemacht hat. Monatelang. Jetzt haben sie 14 Spiele nicht verloren und gehen nicht chancenlos in den Rückrundenauftakt gegen den FC Bayern München am Freitag. Was ist da passiert  zwischen Sommer und Winter? Das Wichtigste ist der Teamgedanke und der Wille, das Spiel zu gewinnen. Das war zu Saisonbeginn hier weniger gegenwärtig. Teamgedanke und Konkurrenzgedanke schließen sich nicht aus. Das habe ich von Karlheinz Riedle in Dortmund gelernt. Er und ich waren als Mittelstürmer Konkurrenten, und er war Weltmeister. Wenn ich gespielt habe, hat er mich angefeuert. Er wusste, unser Ziel ist die Champions League, und er konnte nicht alle Spiele machen. Ich habe in der Champions-League-Zwischenrunde gegen Atlético Madrid und Lodz und Manchester United gespielt, aber im entscheidenden Spiel gegen Juventus Turin hat er gespielt und zwei Tore erzielt. Er hat mich gepusht und mir Wertschätzung vermittelt und Respekt. Das versuche ich zu leben und meinen Spielern klarzumachen.

Zur Person

Heiko Herrlich, geboren am 3. Dezember 1971, verheiratet, drei Kinder, war als Spieler für Bayer 04 Leverkusen (1989 - 93), Borussia Mönchengladbach (1993 - 95) und Borussia Dortmund (1995 - 2004) aktiv. Trainer bei Dortmund (U 19), Deutscher Fußball-Bund (U 17/U19), VfL Bochum, SpVgg Unterhaching, FC Bayern München (U 17), SSV Jahn Regensburg, seit 1. Juni 2017 Bayer 04 Leverkusen.  2000 wurde bei Herrlich ein bösartiger Gehirntumor festgestellt, der erfolgreich behandelt wurde. (ksta)

Und darin liegt der Unterschied zwischen Siegen und Verlieren? Eine Mannschaft entwickelt sich in der täglichen Arbeit über eine lange Zeit hinweg. Nachdem wir in der Vorbereitung das Testspiel gegen Würzburg 0:3 verloren hatten, beschlich mich das Gefühl, dass es eigentlich keinen interessiert. Selbst die gestandenen Nationalspieler nicht. Die sind alle mit neutralen Gesichtern in den Flieger nach Hause  gestiegen, und gut war’s. Ich will hier niemanden in die Pfanne hauen. Im Gegenteil. Ich bin am nächsten Tag in die Kabine gegangen und habe die Mannschaft gefragt: „Was ist hier eigentlich passiert? Wer von euch hat beim Stand von 0:2 einen erfahrenen Spieler gefragt: Warum hilfst du uns nicht? Warum organisierst du uns nicht? Warum bist du nicht der Anführer, an dem wir stark werden, an dem man sich aufrichten kann?“

Haben die Spieler verstanden, was Sie sagen wollten? Ich denke ja. Vor allem die erfahrenen Spieler, die ich ja eigentlich damit angesprochen habe. Wir haben danach geredet, in Einzelgesprächen, von Trainer zu Spieler. Und ich habe gefragt: „Wie lang willst du jetzt so herumlaufen mit dem Kopf nach unten? Wann hilfst du mir? Wann den anderen?“ Julian Baumgartlinger zum Beispiel. Sieben Spiele hat er von Beginn an gemacht, sechs  davon haben wir gewonnen. Ich habe mich oft bei ihm nach Spielen vor der Mannschaft entschuldigt, dass er nicht gespielt hat. Aber ich habe auch gesagt, und das ist eine Tatsache: Mit ihm haben wir die meisten Spiele gewonnen.

Muss man mit diesem Ansatz als Trainer nicht riskieren, für naiv gehalten zu werden? Ach wissen Sie: Das sind meine Überzeugungen. Ich weiß nicht im Detail, wie andere arbeiten.  Vielleicht ist das aus Ihrer Sicht naiv, aber es sind meine Überzeugungen, die ich gelebt habe.

Es geht nicht um unsere Sicht, sondern darum, dass Fußball ein Geschäft ist, das sehr oft berechnend, zynisch und egoistisch wirkt. Ich werde an Ergebnissen gemessen. Das ist ganz klar. An nichts anderem. Aber ich sage meinen Spielern auch, trotz der schönen Serie, die wir haben: Wichtiger noch, das Wichtigste überhaupt, ist die Haltung, die wir zueinander haben. Ich bin ein gläubiger Mensch. Das sechste Gebot, „Du sollst deinen nächsten lieben wie dich selbst“, das heißt nicht, dass man sich nicht mal zusammenscheißen kann. Aber trotzdem – diese Grundhaltung gegenseitiger Zuneigung müssen wir uns bewahren.

Und ihre kleine schauspielerische Einlage, der Sturz an der Seitenlinie im Pokalspiel gegen Gladbach, ist mit den Werten vereinbar... Ich habe mich geschämt. Ich wurde kritisiert und verhöhnt. Zurecht.  Wir sind alle Menschen. Ich bin auch nur ein Mensch. Es war wohl nicht der größte Fehler, den ich in meinem Leben gemacht habe. Und ich fürchte, es werden auch noch mal andere kommen…

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