Das neue Bayer-SystemWie die solidarische Werkself zur Dreierkette kam

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Die solidarischen Bayer-Profis

Leverkusen – Solidarität ist einer der Lieblingsbegriffe von Gerardo Seoane nach kämpferisch errungenen Siegen. Der große deutsche Philosoph Jürgen Habermas definiert den Begriff so: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf.“ Im Fußball bedeutet dies: Mehr schmerzhafte Zweikämpfe, größere Laufwege bis hin zu völliger Erschöpfung, Verzicht auf die Schönheit des Spiels.

So haben die Profis von Bayer 04 nach dem Platzverweis ihres Kollegen Robert Andrich in Stuttgart einen 3:1-Sieg erzwungen, bei dem sie mehr als 60 Minuten lang in Unterzahl waren. Am Ende wurde der überbegabte Florian Wirtz für sein Tor zum 3:1 gefeiert, das die Partie entschied. Aber die Geschichte hinter der Geschichte hatte mit dieser Solidarität zu tun. Und sie begann so richtig erst in der 50. Minute des Spiels.

Erstmalige Dreier-Kette

Mit der Einwechslung des Ecuadorianers Piero Hincapié (19)  für den angeschlagenen Mittelstürmer Patrik Schick (Prellung am Sprunggelenk) hatte sich die Bayer-Innenverteidigung in eine Dreier-Kette verwandelt, was unter Viererkettenliebhaber Gerardo Seoane noch nie vorgekommen war. In dieser Form war das weder geplant noch trainiert worden, zumal Hincapié erst Ende August verpflichtet wurde und danach zwei Wochen auf Länderspielreise war, also gerade erst dabei ist, in seinem neuen Team anzukommen.

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Aber es ging ausschließlich darum, den knappen 2:1-Vorsprung (Tore: Andrich, Schick, Gegentor Mangala) gegen wütend anrennende Stuttgarter irgendwie festzuhalten. Mit drei Innenverteidigern auf dem Platz verwandelte sich die zuvor schwankende Bayer-04-Defensive in Beton, an dem die Stuttgarter zerschellten. Mit dem 3:1 in der 70. Minute war das personell ungleiche Spiel praktisch entschieden. „Das ist normalerweise nicht unsere Kernkompetenz“, analysierte Seoane, „dass wir gefühlt 80, 90 Prozent am eigenen Sechzehner verteidigen und vereinzelte Umschaltsituationen haben. Aber sie haben es gut gemacht und mit großer Solidarität in Unterzahl so lange durchgehalten.“

Offensiv-Feuerwerk

Einige Leverkusener schien angesichts dieses Rollenwechsels vom Künstler- ins Kämpferfach ein schlechtes Gewissen befallen zu haben. Kapitän Lukas Hradecky entschuldigte sich gar für eine „hässliche Leistung“, aber ein wenig Augenzwinkern mochte man bei dieser Aussage des für seinen Schalk bekannten finnischen Torwarts schon erkannt haben, denn dieser Bayer-untypische Sieg eröffnet dem Team ungeahnte Möglichkeiten. Acht Tage zuvor war die Mannschaft trotz eines Offensiv-Feuerwerks nach dreimaliger Führung gegen Borussia Dortmund noch mit 3:4 als Verlierer vom Platz gegangen, weil kein Mittel vorhanden schien, um Haaland & Co. zu stoppen. Mit der Systemumstellung von Stuttgart eröffnete sich jetzt ein Plan B, der in heiklen Momenten zur Verfügung steht, obwohl er noch nicht oft geübt wurde.

Sportdirektor Simon Rolfes, ein großer Freund taktischer Flexibilität, war recht begeistert von dem, was er im Gottlieb-Daimler-Stadion sah. „Das ist eine starke Variante“, erklärt er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ und verwies auf den derzeit noch verletzten Edmond Tapsoba (22), der in einer Dreierkette mit seiner überragenden Passqualität der Faktor X wäre. „Und wir haben Außenverteidiger, die in diesem System offensiv gefährlich werden können.“ Ein Hinweis auf die vorwärts gerichtete Schnelligkeit von Mitchel Bakker (21) und Jeremie Frimpong (21),  die ihre defensiven Verpflichtungen der Außenbahnspieler verinnerlicht haben, sich wie die Kollegen in Stuttgart für keinen Weg zu schade waren und keinen Zweikampf mieden.

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Leverkusens Plan, nach den Jahren des Dauerballbesitzes unter Peter Bosz unberechenbarer zu werden, ist um eine unverhoffte Option reicher geworden. Der Ausfall des Rot-Sünders Andrich für mindestens drei Spiele (DFB-Urteil am Montag noch nicht bekannt) ist nach der Verletzung von Exequiel Palacios (Außenbandriss im Sprunggelenk) allerdings besonders schmerzlich. Immerhin gab die medizinische Abteilung auch beim angeschlagenen Charles Aránguiz Entwarnung, dessen Prellung von Stuttgart wie bei Schick wohl keine Konsequenzen haben wird. Während der vorerst letzten Woche ohne Doppelbelastung sollte die Zeit bis zum Heimspiel gegen Mainz (Samstag, 15.30 Uhr) bis zur Genesung reichen.

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