Kai HavertzWie ein Junge aus Aachen die Fußball-Welt erobert

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Havertz Nachdreh

Kai Havertz mit dem Henkelpott

Porto/Köln – Als die größte Nacht im noch jungen Fußballerleben des Kai Havertz in Porto ihrem Höhepunkt zustrebte, fand er sich vor einer TV-Kamera im Klammergriff des spanischen Kollegen César Azpilicueta wieder. Der Deutsche hatte nach dem 1:0-Sieg über Manchester City – Torschütze: Kai Havertz – gerade seiner Familie, seiner Freundin und allen Weggefährten gedankt, als ihn der Kapitän des FC Chelsea von der Seite ansprang. „Er hat uns den Champions-League-Sieg geschenkt“, krächzte Azpilicueta in bestem Hispano-Englisch, „er wird ein Superstar, nein: Er ist es schon. Er hat eine top Mentalität und rennt wie ein Verrückter. Er hat das verdient.“

Havertz hatte mehr Mühe, seine Gefühle in Worte zu fassen. Immerhin gelang ihm noch der Satz: „Das ist der Lohn für 15 Jahre harte Arbeit.“ Normalerweise geben große Sportler auf dem Höhepunkt ihrer Karriere solche Erklärungen ab. Kai Havertz ist jedoch 21. Das hieße, dass er bereits im Alter von sechs Jahren damit begonnen hatte, der Siegtorschütze im wichtigsten Spiel des Klubfußballs zu werden. Das klingt ungewöhnlich, trifft die Sache bei ihm allerdings ziemlich exakt. Kai Havertz ist ein durch und durch ungewöhnlicher Profi. Und es braucht die richtige Sicht auf den Fußball, um das zu erkennen.

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Frank Lampard hatte sie nicht. Der Trainer, unter dem der Klubs des russisch-israelischen Milliardärs Roman Abramowitsch in die Saison ging, war angeblich ein solch großer Fan des jungen Stars von Bayer 04 Leverkusen, dass er sich vehement für den Rekordtransfer des Corona-Sommers 2020 einsetzte. Kai Havertz ging vor allem deshalb nach Chelsea, weil kein eigener Klub in der Lage war, die von Bayer 04 geforderte Ablöse von rund 100 Millionen Euro zu bezahlen. Die allererste Adresse war der Klub aus dem Norden Londons nicht. Und als Kai Havertz kurz vor Schluss der Transferperiode an der Stamford Bridge ankam, wusste der Trainer wenig mit ihm anzufangen. Er setzte ihn auf Außenpositionen ein, schickte ihn in die für die Premier League so typischen Abnutzungskämpfe, ohne das überragende Talent des gebürtigen Aacheners, sein Auge, seine Schnelligkeit, die perfekte Technik in Passspiel und Torabschluss, für sein Team zu nutzen.

In diesem Team hatte Havertz offenbar mit Integrationsproblemen zu kämpfen. Auffällig war, wie sehr ihn die Kollegen um den ebenfalls noch jungen Führungsspieler Mason Mount schnitten, denen natürlich nicht entgangen war, dass dieser introvertierte Deutsche mit einem Wochengehalt von 350 000 Euro ohne große Titel und Erfolge zum Top-Verdiener im Klub geworden war. Dazu kamen Verletzungen und schließlich eine Covid-Infektion, die den Status des mit zunehmender Skepsis beäugten Rekord-Transfers immer mehr beschädigten. Und keiner weiß, wie es gekommen wäre, wenn Chelsea nicht Ende Januar das einstige Idol Lampard aus seinem Job entfernt und Thomas Tuchel eingesetzt hätte. Der Deutsche wusste viel mehr über Kai Havertz als alle in England. Er kannte die Komplexität der Klasse des Rheinländers, der als Teenager zum Führungsspieler von Bayer 04 geworden war. Der neue Trainer ließ sich von der Nonchalance und Beiläufigkeit nicht täuschen, mit der Havertz die schwierigsten Dinge des Spiels einfach aussehen lässt. Diese Eigenschaft ließ Experten immer schwärmen und normale Beobachter die Frage stellen: „Ist der wirklich so gut?“ Tuchel wusste die Antwort und fand sofort die richtige Position für den 21-Jährigen, der mit seiner immer wieder unterschätzten Geschwindigkeit blitzartig Räume überwindet, die er zuvor mit One-Touch-Spiel selbst geöffnet hatte.

Tuchel Nachdreh

Thomas Tuchel und seine Spieler beim Schlusspfiff

Es war also geradezu logisch, dass Kai Havertz in diesem Finale gegen das vermeintliche Über-Team von Manchester City eine Hauptrolle spielen würde, zumal Pep Guardiola dem FC Chelsea mit einer schon fast erwartbaren Planänderung in die Karten spielte. Wie vor vielen entscheidenden Champions-League-Spielen mit City schaltete der Katalane vom Genie- in den Wahnsinn-Modus, spielte ohne Mittelstürmer, besetzte alle Mittelfeldpositionen gnadenlos offensiv und wurde von Tuchels geradliniger, bewährter Fehlerbestrafungsstrategie geschlagen. Und dazu war nicht einmal ein Konter nötig.

Ben Chillwell spielte in der 42. Minute einen Direktpass auf Mason Mount, Timo Werner schuf mit einem Lauf auf den linken Flügel Platz in der Mitte, dort winkte Kai Havertz, bekam den Ball perfekt in den Vollsprint serviert, legte ihn mit einem einzigen Kontakt an Keeper Ederson vorbei und schob ihn ins leere Tor. Chelsea führte 1:0 und brachte den Vorsprung auch dank des starken Antonio Rüdiger in der Verteidigung und des überragenden N’golo Kanté im Mittelfeld souverän ins Ziel.

Die ersten Glückwünsche kamen, noch während sich auf dem Rasen alle um den Hals fielen, privat und über die sozialen Kanäle aus Leverkusen. Dort war Havertz innerhalb eines Jahres zum Top-Spieler gereift. Dort betrachten sie ihn immer noch als einen der ihren. Und dort werden auch die erfolgsabhängigen Sonderzahlungen eintreffen, die Teil des 100-Millionen-Euro-Transfers waren, den im Sommer 2020 viele für wahnsinnig hielten. Schließlich stemmte Kai Havertz den Henkelpott in die Nacht von Porto und tanzte ausgelassen. Für viele Fußballer wäre das der Höhepunkt der Karriere. Für Havertz ist es erst der Anfang des nächsten Kapitels. Am 11. Juni, wenn die EM beginnt, wird er 22 Jahre alt. „Der liebe Gott hat ihm alles mitgegeben“, sagt Rudi Völler, der ihn als Zehnjährigen aus Aachen zu Bayer 04 geholt hatte.

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