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Europameisterschaft 1996Der Moment, als sich Oliver Bierhoff gehen ließ

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Schuss mit links: Oliver Bierhoff vor dem Golden Goal.

Köln – Oliver Bierhoff versteht sich allgemein und besonders in diesen Tagen als Innen- und Außenminister der  A-Auswahl des DFB und auch als deren Kanzler. Offiziell trägt er  den schicken Titel des „Direktors  Nationalmannschaften und Akademie“, das  alles ist sehr seriös gestaltet, wie Oliver Bierhoff überhaupt immer sehr seriös auftritt, top gekleidet und frisiert, adrett, eloquent und dabei immer etwas unnahbar wirkend. Kaum vorstellbar, dass dieser Mann tatsächlich einmal erstens ein Fußball-Profi war und sich zweitens tatsächlich mal so richtig hat gehen lassen auf dem Platz. So mit Trikot ausziehen und mit blankem Oberkörper feiern. Doch das ist wirklich so passiert.

Es geschieht  am 30. Juni 1996 im Wembley-Stadion. Die deutsche Mannschaft steht im Finale gegen Tschechien, die Verlängerung läuft, 1:1, Bierhoff, spät eingewechselt, hat   zuvor den Ausgleich geköpft. Und nun, in der 95. Minute,  zieht er ab, knapp 16 Meter vor dem Tor, mit links.   Tschechiens Torwart Petr Kouba kann den Ball nur  fausten, das Spielgerät kullert daraufhin in Richtung langer Pfosten – und  findet  den Weg ins Tor. 2:1, die Turnier-Regel dieser englischen EM-Ausgabe  besagt: Das war’s, Golden Goal, das erste in einem großen Fußballturnier.

Es folgt  der Moment der Bierhoff-Enthemmung: „Es war unglaublich. Ich habe danach das Trikot ausgezogen. Das habe ich weder vorher noch nachher in meiner Karriere gemacht“, erzählt Bierhoff dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.  Später, als er die Bilder gesehen hat, „habe ich mich über mich gewundert. Ich denke, in dieser Situation ist viel Ballast und Frust von mir abgefallen.“

Erstmals 16 Teams dabei

Für Bierhoff war ähnlich wie für Horst Hrubesch bei der EM 1980 eher nicht die Helden-Rolle vorgesehen. Beide Mittelstürmer fanden spät zur Nationalmannschaft, Hrubesch mit 29, Bierhoff mit 27 Jahren,   beide waren im Turnier bei ihren Bundestrainern Berti Vogts  und Jupp Derwall umstritten und beide trafen doch  doppelt bei den 2:1-Erfolgen im Finale gegen Tschechien beziehungsweise Belgien. Die EM sprang 1996 in England in eine neue Zeit. Das einst beschauliche Viererturnier hatte sich in Bezug auf die Teilnehmer zum zweiten Mal nach 1980 verdoppelt. Im Juni und Juli vor 25 Jahren waren somit erstmals 16 Teams zugelassen,  die EM entwickelte sich nun zur größten Konkurrenz für die Weltmeisterschaften.

Die deutsche Mannschaft startete mit einem 2:0-Erfolg gegen ihren ersten Vorrundengegner Tschechien ins Turnier. Es folgte ein leichtes 3:0 gegen Russland, ehe sich ein   0:0 gegen Italien anschloss. Das  sicherte den Deutschen den Gruppensieg und brachte Italien das vorzeitige Aus.

Viele Verletzte

Bierhoff spielte nur gegen Tschechien, eingewechselt kurz vor Schluss, hinzu kamen 85 Minuten gegen Russland. Danach griff Vogts erst wieder im Endspiel auf seinen Stürmer zurück.

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Im Viertelfinale bezwangen die Deutschen das hart spielende Team aus Kroatien mit  2:1. Danach entwickelte sich das  Halbfinale von Wembley gegen Gastgeber England   zu einer großen Show, die Deutschland letztlich nach einem 1:1 nach Verlängerung im Elfmeterschießen für sich entschied. Nach dem Match war das deutsche Team physisch allerdings kaum noch vorhanden. Jürgen Kohler hatte sich schon nach 14 Minuten gegen Tschechien verletzt (Innenbandriss im Knie), es folgten: Mario Basler (Knöchelverletzung), Klinsmann (Muskelfaserriss) und Fredi Bobic (Schulter ausgekugelt) nach dem Kroatien-Spiel sowie Steffen Freund (Kreuzbandriss) im Halbfinale. Zwei Tage vor dem Endspiel am 30. Juni konnte Vogts mit nur noch acht Feldspielern trainieren.  Die Uefa genehmigte eine Nachnominierung,   Vogts entschied sich für Jens Todt. Doch der schaffte es letztlich nicht auf die Bank, weil das DFB-Team die erforderlichen drei Ersatzspieler aufbieten konnte. Einer von ihnen war Oliver Bierhoff.

Zwar wurde Klinsmann fit behandelt, das Verletzungspech aber hielt auch im Finale an, Dieter Eilts musste mit einem Kreuzbandriss raus. Für ihn kam nach der Pause Marco Bode. Und erst als die Tschechen durch Patrick Berger nach 59. Minuten in Führung gingen (er hatte einen Elfmeter verwandelt), brachte Vogts in der 69. Minute  Bierhoff für Mehmet Scholl. Die Folge: Bierhoff traf vier Minuten später zum 1:1 und schaffte es dank seines Golden Goals  in die DFB- und Uefa-Geschichtsbücher. 

Die deutsche Elf im Finale: Köpke - Babbel, Sammer, Helmer, Ziege - Eilts (46. Bode), Strunz, Scholl (69. Bierhoff), Häßler - Klinsmann, Kuntz.

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