RückzugMit Andreas Rettig verliert der deutsche Fußball einen streitbaren Geist

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Andreas Rettig zieht sich ins Privatleben zurück

  • Der Manager kämpft bis zu seinem Rücktritt um einen moralisch besseren Fußball
  • Der ehemalige FC-Manager prangert das reine Kommerzdenken als falsch an
  • Fußball soll sich zu seinen gesellschaftspolitischen Aufgaben bekennen

Köln – In knapp zwei Wochen wird Andreas Rettig seinen Schreibtisch beim FC St. Pauli aufräumen, eine kölsche Party in Hamburg geben, am DFB-Bundestag teilnehmen und sich anschließend ins Private nach Köln zurückziehen. Das ist dann ein großer Schritt für den Rheinländer – und ein nicht so ganz kleiner für den deutschen Profi-Fußball, der eine Stimme verliert, für die sich so schnell kein Ersatz finden wird.

In einer letzten medialen Offensive hat der Geschäftsführer des FC St. Pauli noch einmal seine Positionen für einen besseren Fußball erläutert, einen Fußball, der sich seiner  Verantwortung bewusster werden muss. „Der Fußball deckt alle gesellschaftlichen Bereiche ab. Von Klein bis Groß, von Arm bis Reich, von Schwarz bis Weiß, auch wenn Herr Tönnies das anders sieht “, sagt Rettig im Gespräch mit dieser Zeitung in Anspielung auf die nicht sanktionierten rassistischen Äußerungen des Schalke-Aufsichtsratschefs und appelliert: „Deutsche Fußball-Liga und Deutscher Fußball-Bund dürfen ihre Popularität nicht nur dazu nutzen, um mehr Umsätze zu generieren, sondern sollten einen größeren Beitrag zum Gemeinwohl leisten.“

Alle Facetten des Fußballs gesehen

Rettigs Entscheidung, aus dem operativen Geschäft des Profi-Fußballs auszusteigen, hat einen privaten Grund. Er und seine Ehefrau Cordula kümmern sich in Köln um deren 86 Jahre alte Mutter.  Der Abschied vom FC St. Pauli fällt dem Manager, der seine Karriere vor 30 Jahren unter Reiner Calmund bei Bayer 04 Leverkusen begann, sehr schwer. „Hamburg hat Freiburg als Lieblingsstadt abgelöst“, sagt Rettig, „aber Köln ist eben ein Gefühl.“

 Der Fußball-Lehrer  hat vom Fußball mehr Facetten gesehen  als die meisten seiner Weggefährten. In Leverkusen hat er von 1989 bis 1998 das Handwerk  aus der  Sicht eines Werksklubs kennengelernt, beim SC Freiburg (bis 2002) die ganz entgegengesetzte Seite eines Klubs, der mit Idealen und eigenen Ideen die internationale Bühne erreichte.  Beim 1. FC Köln (März 2002 bis Dezember 2005) hat er erlebt, welche extremen Kräfte falsche Entwicklungen in einem Traditionsverein hervorrufen können.

Den FC Augsburg (2006 bis 2012) hat Rettig von einem Drittligisten zum festen Bestandteil der Bundesliga mit entwickelt, um danach als Geschäftsführer der Deutschen Fußball-Liga (2013 - 2015) ins Innenleben des organisierten Profiwesens einzutauchen. Schließlich hat er beim Kultklub FC St. Pauli seine endgültige Berufung gefunden. „Normalerweise verlässt du diesen Verein  nicht mehr “,  sagt  er. „aber neben der Vereinsliebe gibt es noch etwas anderes“.

„Warum machen wir kein Verkehrskonzept?“

Es wird sich jemand finden müssen, der sich um Andreas Rettigs neues Lieblingsthema Nachhaltigkeit kümmert.  Die ökologische und gesellschaftliche Verantwortung des ökonomisch enorm erfolgreichen Kulturgutes treiben den 56-Jährigen um. „Der Fußball zieht jede Saison  mehr als 18  Millionen Zuschauer an. Warum machen wir kein Reise-und Verkehrskonzept? Lebensmittel von Zehntausenden VIP- und Logen-Partner werden an jedem Spieltag vernichtet . Können wir hier keine Ideen entwickeln, was wir damit machen?“

Rettig schwebt vor, dass bei der Lizenzierung von Bundesliga-Klubs eine bestimmte Anzahl von Strom-Zapfsäulen für E-Autos gefordert wird; dass auf die Einhaltung von Menschenrechten bei der Herstellung von Merchandising-Produkten geachtet wird. „Wir haben festgestellt, dass ein großes Interesse am Thema Nachhaltigkeit auch von den Wirtschaftspartnern besteht“, sagt Rettig.

Die letzten Monate haben gezeigt, wie schwer sich der auf  Erfolge und  Umsätze ausgerichtete Profi-Fußball mit solch komplexen Themen tut. Nicht einmal zu den Menschenrechten hat er sich klar bekannt. Der  rassistische Ausfall von Clemens Tönnies gegen Afrikaner blieb vom FC Schalke und dem Deutschen Fußball-Bund ausdrücklich ungeahndet. Andreas Rettig weiß, warum: „Wir sind in einer Branche, in der eine offene Streitkultur als  Nestbeschmutzung betrachtet wird .“ Diese Branche hat nach Rettigs Abgang am 23. September einen Streiter weniger.

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