Traum(a)spiel Schalke gegen HachingDie Meister der Herzen

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Tränen bei einem Schalker Fan

  • 2001 ist der FC Schalke 04 für 4:38 Minuten Deutscher Meister.
  • Königsblau sieht sich am Ziel aller Träume, die Menschen feiern – doch dann kommt das Tor von Patrick Andersson.
  • Rückblick auf einen legendären Nachmittag im Parkstadion.

Gelsenkirchen – Eine blaue Rose hat jede Spielerfrau in der Hand am späten Nachmittag des 19. Mai 2001, es ist ein milder Samstag. Langsam bewegt sich die kleine Karawane in Richtung der Empore des Parkstadions. Das Spiel ist aus, Schalke 04, Vereinsfarben blau und weiß, hat gegen Unterhaching gewonnen. Und vorgelegt. Die Frauen mit der Rose dürfen hoffen. Darauf, dass ihre Männer gleich Deutscher Meister werden. Es sieht gut aus. 

17.16 Uhr

Die Spielerfrauen sehen, dass ihre Männer sich langsam auf dem Boden verteilen. 5:3 haben sie gegen Unterhaching gewonnen, nach einem 0:2- und 2:3-Rückstand, und zwar zum letzten Mal im Parkstadion, der rostenden Laube auf dem Berger Feld im Gelsenkirchener Stadtteil Erle. 65.000 Menschen sind gekommen, auch, um nach 28 Jahren Abschied zu nehmen von der alten Arena, zudem jedoch geht es um sehr, sehr viel für Schalke 04. Ein Erfolg gegen Unterhaching bei einer gleichzeitigen Niederlage von Bayern München beim Hamburger SV würde bedeuten, dass der Klub erstmals seit 1958 wieder Meister ist. Wegen des besseren Torverhältnisses.

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Mehr oder weniger zeitgleich mit dem Schlusspfiff im Parkstadion verbreitet sich dort, von den Zuschauerrängen ausgehend, eine Nachricht, die die Gemeinschaft der Schalker im Stadion elektrisiert und nicht mehr auf den Beinen hält: Hamburg führt, 1:0 durch Sergej Barbarez in der 90. Minute. Wenn es so bleibt, ist Schalke Meister.

Allein die Aussicht auf das finale Wunder lässt die Fans zucken und zittern, ihre Gemütslage changiert zwischen Trance, Ohnmacht und Hysterie. Die Zuschauer eilen auf den Rasen. Überliefert ist, dass  ein Taxi-Fahrer auf der Kurt-Schumacher-Straße am Schalker Markt nach dem Barbarez-Tor eine Vollbremsung hinlegt, aus seinem Auto springt und schreit: „Hamburg führt.“ Menschen jubeln mit ihm. Der Verkehr fließt nicht mehr. Huub Stevens jedoch, der Trainer von Schalke 04, schickt seine Spieler in die Kabine. Es wird ja noch gespielt in Hamburg. Oder?

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Andreas Möller kann es nicht fassen.

Rollo Fuhrmann, Feld-Reporter von Premiere, dem Vorgängen von Sky, vermittelt den Eindruck, als wisse er Bescheid. Schluss  in Hamburg verkündet er unten, wo unter anderem noch Manager Rudi Assauer   und skurrilerweise auch der einstige Vizekanzler Jürgen Möllemann in Fallschirmspringermontur stehen, denn er war  im Laufe des Tages aus der Luft ins Stadioninnere geschwebt. Assauer hat  vor dem Spiel eine Parole ausgegeben: „Wer vorher feiert, feiert umsonst.“ Doch dieser mahnende Assauer hebt nun, infiziert von Fuhrmanns Worten, ab, springt in die Luft, jubelt wie wahrscheinlich noch nie in seinem Leben. Im Hintergrund beginnt ein Feuerwerk – eine Abschiedsgeste für das Parkstadion. Das Geballere verstärkt nur den Eindruck, dass wahr ist, was Fuhrmann gerade verbreitet hat. Schalke ist Meister. Peng. Bumm. Knall.

17.18 Uhr

Es beginnen 4:38 Minuten zwischen tiefer Glückseligkeit und unendlicher Trauer. Denn die Nachrichtenlage ist unsicher. Die Zeit der vielen Gerüchte beginnt. Die Anzeigetafel auf der Südtribüne wird zur Leinwand. Auf ihr ist live das Spiel in Hamburg zu sehen. Ja, der HSV führt noch mit 1:0. Aber nein, das Spiel ist längst noch nicht aus.

Die Schalker Spieler befinden sich  in der Trainerkabine und verfolgen von dort im Fernsehen, was in Hamburg passiert. Kurz darauf sehen sie, sehen alle, dass Bayern-Profi Patrick Andersson einen indirekten Freistoß im Hamburger 16-Meter-Raum ins Tor schießt.  1:1. Der  Treffer hat narkotische Wirkung. Gleich danach ist auch das Spiel in Hamburg aus. 1:1. Die Bayern sind Meister. Ein Punkt vor Schalke. Assauer sackt zusammen. Er versucht irgendwie zu seinen Spielern zu gelangen, die in der Kabine warten. Der Rasen des Parkstadions ist jetzt, um 17.22 Uhr, ein Jammertal.

17.25 Uhr

Die Tristesse, die unendliche Enttäuschung der Fans nimmt weiter ihren Lauf. Im Spielertrakt fliegen Gegenstände, später sagt  Mittelfeldakteur Marco van Hoogdalem: „Bänke, Türen, Fernseher – nichts ist mehr heilgeblieben.“ Eine Rechnung wird nicht erstellt. Assauer und Stevens gelingt es nicht, die Spieler zu trösten. Stevens schickt sie raus auf die Empore, von der sich ihre Frauen schon entfernt haben.

Eine bizarre Szenerie öffnet sich. Unten die konsternierte Masse der Fans, entsetzt, außer sich vor Trauer. Auf der Empore die fassungslosen und verstörten Spieler, die immer noch nicht wissen, was gerade mit ihnen geschieht.  Die Stadionregie spielt „You’ll never walk alone“. Das ist zu viel.

Die Profis, ihre Frauen, Assauer und Stevens beginnen zu weinen – zu ihren Füßen erleben sie dieselbe Reaktion. Im Berger Feld sammelt sich ein Meer aus Tränen. Ein Traumaspiel. Und doch ein faszinierendes, unvergessliches Fußballerlebnis. Es ist erstaunlich, welche Emotionen in 4:38 Minuten passen.

26. Mai 2001

Eine Woche später: Schalke 04, längst zum Meister der Herzen erkoren, darf sich im Berliner Olympiastadion  entschädigen. Pokalfinale. Schalke gewinnt 2:0 gegen Union Berlin. Und darf doch noch feiern.

Allerdings einen Trostpreis.

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