Traumspiel gegen Brasilien7:1 – Ein Triumph für die Ewigkeit

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Deutschland feiert, Brasiliens  David Luiz leidet.

  • Mit 7:1 besiegte Deutschland bei der WM 2014 in Brasilien im Halbfinale den Gastgeber.
  • Der quälende Ausruf des Kommentators „Gol da Alemanha“ hat sich fest im brasilianischen Sprachgebrauch etabliert.
  • Jeder Brasilianer weiß, was er am 8. Juli 2014 gemacht hat, wie er das Spiel erlebt hat, wie er gelitten hat.

Köln – Es läuft die 29. Minute des WM-Halbfinals Brasilien gegen Deutschland, als auf der Pressetribüne andächtig Laptops zugeklappt werden. Sami Khedira hat soeben das 5:0 erzielt. Auf den Videoleinwänden sind weinende Menschen in brasilianischen Trikots zu sehen, auf den Smartphones deutscher Stadionbesucher leuchten Nachrichten mit besorgtem Inhalt auf: „Pass auf dem Heimweg gut auf Dich auf“, „Ich hoffe, da passiert heute Nacht nichts“. Trotz der vom Ergebnis zeugenden Anzeigetafel, dem verstummten Estádio Mineirão in Belo Horizonte und dem Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung kann kaum jemand fassen, was auf dem Rasen geschieht. Die Tastaturen der Journalisten ruhen. Es gilt, das Unwirkliche zu begreifen. Und es ist noch nicht vorbei.

7:1 steht es schließlich, als Schiedsrichter Marco Rodríguez aus Mexiko die Partie abpfeift. Das Spiel hat sich tief in die Seele der Nation eingebrannt. Der quälende Ausruf des brasilianischen Kommentators „Gol da Alemanha“ hat sich fest im Sprachgebrauch etabliert und wird bei Missgeschicken und Frust benutzt. Jeder Brasilianer weiß, was er am 8. Juli 2014 gemacht hat, wie er das Spiel erlebt hat, wie er gelitten hat.

Seifenoper um Neymar

Wie es zum Zusammenbruch kam, kann sich auch knapp sechs Jahre danach kaum jemand erklären. Dabei hatte das Wunder seine eigentliche Qualität missachtet und sich ein wenig angekündigt: Brasilien hatte sich beim Heimturnier eher ins Halbfinale gerumpelt als gezaubert, auf dem Weg dorthin zudem Superstar Neymar durch eine Rückenverletzung verloren. Er blieb Hauptdarsteller einer fragwürdigen Seifenoper, war vor dem Spiel allgegenwärtig, grüßte per Liveschalte aus dem Krankenbett, aus einem Helikopter, heulte, betete. Wie das gesamte Land bemitleidete auch das Nationalteam den Leidenden und vergaß dabei, den Blick auf das große Ziel zu richten: das WM-Finale.

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Ein brasilianischer Fans während des Halbfinals

Auch als 60.000 Menschen im gelb gefärbten Stadion in der Stadt des schönen Horizonts vor dem Anstoß inbrünstig die Nationalhymne sangen, um ihre verbliebenen Auserwählten zu beflügeln, stand Neymar im Mittelpunkt. Brasiliens Spieler, die das Stadion bereits mit Neymar-Kappen betreten hatten, zeigten sein Trikot mit der Nummer 10. Dass im ohrenbetäubenden Lärm des Kessels plötzlich die Brasilianer zitterten, war der Anfang des Untergangs. Es folgten 90 Minuten, in denen die Selecao von den kühl beobachtenden Rivalen eine schmerzhafte Lektion erhielt: Wer stets zurückblickt, kommt nicht voran.

Und so fiel das schwer emotionalisierte Team in Abwesenheit des Hoffnungsträgers und eines alternativen Siegplans auf furchtbare Weise in sich zusammen. Dem Wirkungstreffer durch Thomas Müller (1:0/11.) folgte der erste Niederschlag, als Miroslav Klose auf 2:0 (23.) erhöhte und dem im Stadion anwesenden Nationalhelden Ronaldo mit seinem 16. WM-Treffer den Rekord des besten WM-Torschützen stahl. Schon beim 3:0 (25.) von Toni Kroos war von den brasilianischen Stars nicht mehr als ihre Hüllen übrig, Kroos’ 4:0 (26.) führte zum Fabelrekord von drei WM-Toren in nur 179 Sekunden. Er war die Folge eines seltenen Phänomens: Eine ganze Mannschaft taumelte wie ein schwer getroffener Boxer und ließ die Deckung fallen. Profis wie David Luiz oder Dante erstarrten wie Avatare auf der Konsole, wenn der Spieler den Controller beiseitelegt. Nach Sami Khediras 5:0 (29.) ließen die Deutschen vorerst vom am Boden liegenden Gegner ab. Mentaler Knockout. Angesichts der wundersamen Ereignisse mussten aber auch sie die Geschehnisse erst einmal verarbeiten: „Ich hatte den einen oder anderen Moment, in dem ich gedacht habe: »Bitte, lass das jetzt nicht irgend so eine Art schöner Traum sein«“, sagte Mats Hummels im Anschluss. Doch das Erlebte blieb real. Es passte zur Dramaturgie, dass in der Nacht, in der Brasilien weinte, Toni Kroos zum Terminator wurde. Es hätte keinen besseren Gegenpol zu den an den eigenen Gefühlen erstickenden Brasilianern geben können als den stets bedachten und kühl analysierenden Deutschen: „Sie waren nicht voll da. Keiner wollte den Ball haben, da hat die Angst mitgespielt.“ Doch wie seine Mitspieler erntete auch Kroos schon während des Spiels neben dem Respekt für die herausragende Darbietung auch persönliche Anerkennung.

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Weltweit wurde genau registriert, dass der Jubel der DFB-Auswahl mit zunehmender Spieldauer abnahm, gegnerische Spieler getröstet wurden und Häme ausblieb. So kam es in der zweiten Hälfte zu einer beeindruckenden Geste: Als André Schürrle das 7:0 erzielte, applaudierten die Fans in Belo Horizonte. Am Tag danach trauerte Brasilien leise, die befürchteten Ausschreitungen blieben aus. Die Tageszeitung „O Tempo“ allerdings erregte Aufsehen durch ihre Titelseite – die aus einer Todesanzeige des brasilianischen Fußballs bestand.

Für den deutschen Fußball wurde dagegen der 8. Juli abermals zu einem bedeutenden Datum: 1974 hatte das DFB-Team an diesem Tag den WM-Finalsieg gegen die Niederlande gefeiert, 1982 wurde Frankreich im WM-Halbfinale bezwungen.

Doch der Sieg von Belo Horizonte, der den Titelgewinn im Finale gegen Argentinien ermöglichte, war etwas Einmaliges. Ein Gemälde,  ein Triumph für die Ewigkeit – 60 Jahre nach dem Wunder von Bern. Doch vor allem wegen des bevorstehenden Endspiels hatte Thomas Müller Recht mit seiner lapidaren Einschätzung: „Ein Eintrag in die Geschichtsbücher, Gratulation.“

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