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Vom Durchschnittskicker zum MenschenfängerDas Geheimnis des Jürgen Klopp

Lesezeit 5 Minuten
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Jürgen Klopp, Champions-League-Sieger 2019

  • Jürgen Klopp hat in seiner Trainerkarriere nicht nur Mannschaften verbessert. Er hat ganze Regionen euphorisiert.
  • Im dritten Anlauf ist nach sechs verlorenen Endspielen der Durchbruch gelungen.
  • Der 51-Jährige hat eine außergewöhnliche Entwicklung hinter sich. Ebenso außergewöhnlich ist er als Fußballlehrer.

Madrid – Diese Energie. Wer Jürgen Klopp nie persönlich begegnet ist, macht sich keine rechte Vorstellung davon. Sie strömt ohne Unterlass aus diesem Menschen, der die Leute fasziniert, wo immer er auftritt. Am Sonntag haben ihm auf den Straßen Liverpools mehr als 500.000 Menschen zugejubelt. Durch den 2:0-Sieg des LFC im Champions-League-Finale gegen Tottenham Hotspur ist der Deutsche im Trainer-Olymp angekommen.

Liverpool erfreut sich großer Beliebtheit in Deutschland

In dieser Zeit, die immer strenger auf männliche Alphatiere mit Anführer-Gen blickt, ist Jürgen Klopp eine große Ausnahme. Auch er hat Gegner, doch sie machen ihm insgeheim vor allem diesen Vorwurf: Dass er nicht Trainer ihres Vereins ist. Das hat dazu geführt, dass halb Deutschland den FC Liverpool adoptiert hat als Vehikel für Sehnsüchte, die in der vom FC Bayern München dominierten Bundesliga durch die eigenen Klubs nicht mehr zu befriedigen sind. Mit Jürgen Klopp kann jeder leiden, jeder jubeln, von Triumphen träumen und damit Teil einer großen Familie sein, die sich als gut empfindet.

Dieses Phänomen würde es vermutlich nicht geben, wenn sich der durchschnittliche Zweitliga-Fußballer Jürgen Klopp im Februar 2001 nicht verletzt hätte. Sein Verein Mainz 05 hatte gerade wieder einen Trainer verloren. Der geniale, aber schwierige Fußball-Lehrer Wolfgang Frank hatte dem Team zwischen 1995 und 2000 ein System mit Viererkette und Pressing verpasst, das  avantgardistisch war im deutschen Fußball.

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Heidel verhilft Klopp zum Trainer-Job

Andere Trainer konnten mit diesem Erbe nichts anfangen. „Bei uns war die Mannschaft irgendwann taktisch schlauer als ihre Trainer, und dann habe ich entschieden: Jetzt trainieren wir uns einfach selbst“, sagt Christian Heidel, damals Manager des FSV Mainz 05. Und weil der Kapitän ohnehin nicht spielen konnte, entschied Heidel: Kloppo macht’s. „Das war an Rosenmontag 2001, wir haben drei Stunden miteinander geredet“, erinnert er sich, „und an Faschingsdienstag hatten wir eine großartige Pressekonferenz.“ Der Trainer Jürgen Klopp war geboren.

Im April hat das „Manager Magazin“ einen enthusiastischen Artikel über Jürgen Klopp veröffentlicht und  Führungsqualitäten gepriesen, mit denen jedes Unternehmen der Welt in neue Dimensionen vordringen könnte. Es wurde beschrieben, wie die Besitzer des Liverpool FC den deutschen Fußballtrainer vor dessen Verpflichtung mit allen Analyse-Möglichkeiten finanzhungriger Groß-Investoren auf Tauglichkeit überprüften. Die „Fenway Sports Group“, der unter anderem das glorreiche Baseball-Team der Boston Red Sox gehört, hat wenig übrig für Fußball-Romantik. Sie will Daten, Fakten, Ergebnisse, Gewinn. So wurde Klopp 2015  algorithmisch auf seine Fähigkeiten als Team-Manager und Super-Manager durchleuchtet. Klopp hatte mit Sternchen bestanden und durfte einen Vertrag unterschreiben, der ihm elf Millionen Euro Jahresgage sichert. Seitdem hat sich der Wert der Organisation Liverpool FC verdoppelt.

Christian Heidel hat Klopps Potenzial 14 Jahre früher auf andere Art erkannt. Sein einziges Analysetool war der Bauch. Dem unerschöpflichen Charisma des Fußballers Klopp wären viele schnell verfallen. Er löst mit einem Lächeln, wofür andere ein diplomatisches Korps gründen müssten. Er erreicht mit einem Blick, was anderen ohne Anwalt nicht gelänge. Und er bringt Menschen dazu, ihm blind zu folgen. Alleine mit der Art, wie er vor ihnen steht. Es ist gut, dass Jürgen Klopp nie eine Sekte gegründet hat und das wohl auch nie tun wird. „Jürgen ist ein Menschenfänger“, sagt Christian Heidel offen, „aber er ist ein guter Menschenfänger mit großartiger sozialer Kompetenz und mit unglaublichem fußballerischen Sachverstand von Anfang an. Das haben viele lange Zeit unterschätzt, aber als Schüler von Wolfgang Frank hatte er schon lange ein großes, modernes Fachwissen.“

Bayer 04 entschied sich gegen Klopp

Klopps Bild des Erzählers und Unterhalters wurde geprägt von seiner Expertenzeit beim ZDF, wo er zwischen 2005 und 2008 die Spiele der Fußball-Nationalmannschaft analysierte. Zwar war ihm zuvor das Wunder des Aufstiegs mit Mainz 05 in die Bundesliga gelungen, aber in der Branche war der Trainer Klopp allenfalls ein akzeptierter Emporkömmling.  Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Klopp 2008 vor allem deshalb beim sportlich und wirtschaftlich damals ziemlich verzweifelten Großklub Borussia Dortmund übernommen hat, weil sich Bayer 04 Leverkusen gegen seine Verpflichtung entschieden habe.

Der Rest ist Geschichte. Mit Klopp begann in Dortmund eine Ära. Der Typus des Idealtrainers wurde neu definiert. Zuvor waren kühle Strategen wie Ottmar Hitzfeld oder grantige Zyniker wie Ernst Happel Vorbilder der Branche im deutschen Raum. Heute will jeder einen wie Jürgen Klopp, der eine Mannschaft, einen Verein, sogar seine Gegner mitreißt. Klopp hat es geschafft, Fußball vom harten Diktat des Ergebnisses zu befreien. Am Ende steht die Emotion, das Gemeinschaftserlebnis, ein neues Wir. „Jürgen Klopp hat überall, wo er gearbeitet hat, eine Region verändert“, sagt Christian Heidel, „andere haben das mit einer Mannschaft geschafft oder einem Verein, aber niemand mit Städten und Regionen. Das kann nur Jürgen.“

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Klopps Kunst ist es, immer er selbst zu sein und in Fragen der Emotionalität dennoch nichts dem Zufall zu überlassen. Er bindet seine wichtigen Spieler durch Gespräche und Gesten eng an sich, er holt alle, die Erfolg sportlich und menschlich beeinflussen könnten, auf seine Seite. In Liverpool hat die deutsche Ernährungsberaterin des Klubs den Frauen und Freundinnen Kochkurse gegeben, damit die teuren Körper der Top-Spieler auch zu Hause professionell mit Nährstoffen versorgt werden. Als ihm das markante blonde Haupthaar schütter wurde, hat Klopp durch eine Haartransplantation nachhelfen lassen. Und seit geraumer Zeit blitzen seine mächtigen Zahnreihen, künstlich erneuert, mit einer raubtierhaften Regelmäßigkeit in die Kameras, die Widerspruch zu einer schwer vorstellbaren Sache macht. All das ist Teil der großen Strategie, denn auch Jürgen Klopp will nicht nur andere Menschen glücklich machen. Er will den maximalen Erfolg.

Das Defizit ist korrigiert

Hier lag lange ein großes Defizit seiner Trainer-Vita. Sechs große Endspiele hatte Jürgen Klopp vor diesem Finale in Madrid verloren, zwei davon – 2013 und 2018 – in der Champions League. „Jürgen braucht keine Titel“, hat sein Kollege Rafael Benitez, einst selbst Trainer in Liverpool, anerkennend über die fundamentale Arbeit seines  Kollegen gesagt. Jetzt, nachdem dieser Titel gewonnen ist, lässt sich widersprechen: Jürgen Klopp hat ihn doch gebraucht.

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