Leichtathletik-Direktor„Geisterspiele im Fußball wären eine Möglichkeit, zu lernen“

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Cheick-Idriss Gonschinska

  • Olympia in Tokio, das große Ziel aller Leichtathleten, wurde aufgrund der Corona-Pandemie auf 2021 verschoben.
  • Wie geht es weiter in der Leichtathletik? Der DLV möchte die Deutschen Meisterschaften ohne Zuschauer durchführen.
  • DLV-Generaldirektor Cheick-Idriss Gonschinska im Interview

Köln – Herr Gonschinska, Sie waren selbst lange Athlet. Wir erleben Sie die aktuelle Situation? Es herrscht bestes Leichtathletik-Wetter – aber es findet kein  Wettkampf statt.

Der Sport als ein wichtiger sozial-integrativer Bereich, ob es nun Spitzensport ist oder Breitensport, ist natürlich sehr stark von dieser Weltwandel-Pandemie betroffen. Das Wesen des Sportbetriebs ist Interaktion in Gruppen. Gemeinsames Training, gemeinsame Wettkämpfe, gemeinsame Lehrgänge, die gemeinsame Organisation von Veranstaltungen. Doch viele regelmäßige und planmäßige Abläufe finden jetzt einfach nicht statt. Ich war vor allem auch sehr lange Trainer. Athleten-Trainer-Gespanne leben davon, sich gezielt, emotional, motiviert auf Highlights vorzubereiten. Da stehen jetzt viele Fragezeichen.

Das große Ziel Olympia wurde auf nächstes Jahr verschoben.

Das war wichtig, dafür haben wir uns eingesetzt. Vor dem Hintergrund der Gesunderhaltung und der Risikominimierung musste das sein. Aber für die Athleten ist damit natürlich ein Traum weggebrochen. Jetzt gilt es, täglich, achtsam individuelle Lösungen für diese ungewöhnliche Situation zu erarbeiten. Das ist eine Challenge für die Athleten – und auch für unsere Trainer. 

Wie kommen die klar?

Durch die Kontaktsperren musste zuletzt per Video gecoacht werden, die direkte Nähe im Training war nicht gegeben, es war viel Improvisation nötig. Es ist im Moment wichtig, dass wir im Hier und Jetzt leben, mit den jeweils aktuellen Verordnungen. Für die Kaderathleten hat das Training an den Stützpunkten schrittweise wieder eingeleitet werden können. Wir sind in der Abstimmung, wie das in der nächsten Phase für das Vereinstraining erweitert werden kann. Und wir streben eine Late Season, eine verspätete Saison im Spätsommer und Herbst an.

Zur Person

Cheick-Idriss Gonschinska, geboren am 16. Dezember 1968 in Leipzig, seit Anfang 2019 Generaldirektor des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Diplom-Sportwissenschaftler, ehemaliger Hürden-Sprinter, ehemaliger Leichtathletik-Trainer – ab 2010 DLV-Bundestrainer für die Sprint- und Laufdisziplinen, ab 2012 DLV-Chef-Bundestrainer, von Oktober 2016 bis Januar 2019 leitender Direktor Sport des DLV. Inzwischen ist er als Generaldirektor für Strukturen, Abläufe und Entwicklungen des gesamten Verbandes zuständig. (sro) 

Ohne Zuschauer?

Wir arbeiten an Konzepten, eine Deutsche Meisterschaft ohne Zuschauer umzusetzen. Es ist wichtig für Athleten und Trainer, dass wir eine Aussicht auf Wettbewerbe und Herausforderungen kreieren. Bis hin zu der Idee, dass man das über virtuelle Einzelduelle an verschiedenen Standorten gestaltet. Wettkampfnahe Trainingsformen und Wettbewerbe sind wichtig, um sich fit zu halten. Das kann man nicht allein mit Athletik-Training.

Die Sechsmeter-Stabhochspringer Armand Duplantis aus Schweden und Renaud Lavillenie aus Frankreich, aktueller und ehemaliger Weltrekordhalter, flirten bereits öffentlich mit der Idee der digitalen Fern-Vergleiche. Ist das vorstellbar?

Ich will jetzt noch nicht im Detail über die Ideen unserer Innovativ-Abteilung reden. Aber natürlich ist es so, dass die Digitalisierung in der aktuellen Situation rasant voran geht. Wir orientieren uns an Gaming-Situationen und überlegen, was wir für Herausforderungen schaffen können. Insofern kann ich mir das durchaus vorstellen. Wir haben ja ohnehin ein technisiertes Trainingssystem. Es werden schon jetzt Daten von Tests und Videos in den Clouds der Trainerteams ausgetauscht. Wir haben das nur bislang nicht öffentlich positioniert. 

Das könnte sich nun ändern?

Ja. Wenn wir eine Community teilhaben lassen, wird es vielleicht noch mehr zu einer Challenge. Da können sich kreative Möglichkeiten und Chancen ergeben. Aber zuallererst ist diese Pandemie natürlich insgesamt eine sehr herausfordernde Situation, die man kaum in Worte fassen kann.

Viele Athleten gehen erstaunlich positiv damit um und sehen die Möglichkeit, an Dingen zu arbeiten, die sonst zu kurz kommen. Bietet sich hier eine Chance für neue Impulse?

Mit gewohnten Mustern zu brechen, ist immer auch eine Chance für die Entwicklung neuer Qualitäten. Aber es fällt mir natürlich schwer zu sagen, dass eine weltweite Pandemie auch etwas Positives mit sich bringen könnte. Mir wäre lieber, wir müssten das nicht so erleben. Aber unsere Top-Athleten zeichnet aus, dass sie schwierige Situationen annehmen können, dass sie gewohnt sind, mit Rückschlägen umzugehen.

Der ehemalige Zehnkampf-Olympiazweite Frank Busemann hat prophezeit, dass es 2021 bei vielen Leichtathleten durch das aktuell verstärkte Athletiktraining eine Leistungsexplosion geben werde. Glauben Sie daran?

Ich bin Sportwissenschaftler und möchte diese individuelle Meinung nicht bewerten. Prognosen sollten validiert sein, und dies ist im Zusammenhang mit möglichen Leistungstrends für das folgende Jahr kaum möglich. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass die Entschleunigung eines hektischen Alltags, das Nutzen neuer Trainings-Reize, das Arbeiten an Stärken und Schwächen ohne zeitlichen Druck – dass das durchaus neue Qualitäten eröffnen kann. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass Athleten in eine Loch fallen, wenn ein Traum platzt.

Leistungssportler sind Menschen, die sich gern in der Öffentlichkeit präsentieren, die den Wettkampf brauchen, die große Bühne. Wie lange werden sie es verkraften, wenn das alles fehlt?

Viele Athleten nutzen aktuell die Social-Media-Kanäle, um sich darzustellen. Sie müssen die Krise annehmen und das Beste daraus machen. Wer das jetzt schafft, wird auch derjenige sein, der sich bei den Wettkämpfen, die irgendwann wieder kommen werden, durchsetzen kann. „Shining under pressure“ ist das Stichwort, unter Druck glänzen. 

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Viel diskutiert wird aktuell die Dopingfrage. Es kann nicht so kontrolliert werden wie vor der Corona-Pandemie, daher gibt es Befürchtungen, dass jetzt munter zu Dopingmitteln gegriffen wird. Bereitet Ihnen das Sorgen? 

Wir haben eine Pandemie, da steht die Gesundheit absolut im Mittelpunkt und nicht der Sport. Das hat natürlich Auswirkungen auf das Anti-Doping-System, es kann aktuell nicht in der gewohnten Form umgesetzt werden. Das ist ein Fakt, den wir kritisch einordnen, aber zur Kenntnis nehmen müssen.

Wie erleben Sie die Diskussion um Geisterspiele im Fußball? Steht einer Sportart eine solche Sonderrolle zu – oder müssten alle anderen diese Chance  auch bekommen?

Ich habe großen Respekt vor allen Sportarten und den Entwicklungen, die sie realisiert haben. Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit entsprechende Konzepte mit behördlichen Vorgaben vereinbar sind. Ich bin kein Virologe und ich kenne die Konzepte nicht, daher kann ich das nicht einschätzen. Aber wenn es im Fußball möglich wird, wird es Transfereffekte geben. Auch wir hoffen ja auf eine späte Saison unter Wahrung von Social Distancing. Geisterspiele im Fußball wären vielleicht eine Möglichkeit für uns, daraus zu lernen und Dinge zu adaptieren.

Da kommt kein Neid auf bei Ihnen?

 Ich möchte nicht zwischen den Sportarten werten und urteilen. Die heutige Zeit sollte uns nachdenklich machen und eher das Miteinander in den Mittelpunkt stellen anstatt die Kritik aneinander. Das ist eine weltweite Krise, die Menschen und somit auch Sportarten und Sportler verbinden und nicht gegeneinander aufbringen sollte.

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