Vendée GlobeBoris Hermann ist der erste Deutsche mit Siegchancen

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Boris Herrmann ist der erste Deutsche, der am Rennen teilnimmt.

  • Die Vendée Globe ist eines der letzten Abenteuer der Gegenwart.
  • Nie zuvor hat ein Nicht-Franzose die härteste Solo-Regatta des Segelsports gewonnen.
  • Dem Hamburger Boris Herrmann könnte es gelingen.

Beinahe jeden Tag ein Anlass für neuen Stress an Bord. „Irgendwas ist immer extrem. Extrem leichter Wind, extrem drehend … Vielleicht wird aber auch mein Nervenkostüm einfach nur schwächer“, sagt Boris Herrmann. Sein Blick schweift prüfend aus dem Cockpit hinaus in den wolkenverhangenen Himmel, der Windböen aus Südwest herbeischickt, in denen sich die Segel blähen und die Wellenkämme drei Meter hoch über den Atlantik rollen. „Die Wahrheit ist wohl: Die Einsätze werden immer höher“, sagt der 39-Jährige.

Seit 79 Tagen und Nächten ist der Deutsche nun schon auf hoher See – einer von jetzt noch 25 Teilnehmern der 9. Vendée Globe – die härteste Segelregatta der Welt. Boris Herrmann ist der erste deutsche Teilnehmer in der Geschichte des Rennens, das von jeher von Franzosen dominiert wird. Jetzt hält er Kurs auf den Zieleinlauf, und es sieht gut aus für den Skipper aus Hamburg.

Und doch geht ihm nach all den überstandenen Strapazen immer noch ein möglicher später Ausfall durch den Kopf. „Das würde sich für mich jetzt noch tragischer anfühlen als zuvor. Mit jedem Tag, den ich dem Ziel näher komme, mischt sich zu der positiven Aufregung diese latent paranoide Angst. Es ist ein Rodeo der Gefühle.“

So wie neulich Nacht, als der Filter des Wasseraufbereiters an Deck leckschlug. „Ich hätte fast alles versaut: Wasser im Motorraum. Mein Fehler. Die halbe Nacht habe ich mich mit dem Schlamassel herumgeschlagen. Dies hätte so leicht das Ende der Geschichte sein können.“ Schlaf zu finden ist das schwierigste, sagt Boris Herrmann in einer seiner Videobotschaften, die er täglich von Bord an die zunehmend elektrisierte Fangemeinde richtet. Extreme Erschütterungen in schlecht geformten Wellen, ständig wechselnder Wind, das alles helfe nicht, den Moment des Loslassens zu finden. „Mein Kopf versucht hyperaktiv mögliche Probleme mit dem Boot zu lösen. Sollte ich jetzt einen anderen Kurs steuern? Besser die J3-Fock setzen? Ein zweites Reff einbinden? Die Gedanken verschwimmen. Der Verstand produziert keine klaren Anweisungen mehr.“

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Nur noch wenige Stunden, bis der Wind aufbrisen und die Seaexplorer mit ihrem Schiffsführer Herrmann über die Ziellinie segeln wird. „Dann ist da aber wieder diese laute Stimme. Jetzt pushen. Du darfst nicht schlafen.“ Für dieses Mal hat er das Vorsegel so stehenlassen, wie es war. „Aber ich spüre die Grenze der Schlafentzugs. In meinem Hinterkopf entwickelt sich dieses seltsame Gefühl, als ob ich weinen müsste. Das ist dann immer das Zeichen: Schlaf jetzt!“ – Für eine Viertelstunde wenigstens. Nach mehr als zehn Wochen allein auf hoher See sind jetzt vor allem gute Nerven gefragt.

Denn es droht ein Herzschlagfinale zu werden. Im spannenden Schlussspurt der Weltumseglung können zwischen Jubel und Frust, zwischen einem Podiumsplatz und Rang sieben Kleinigkeiten entscheiden. „Ich bin der Jäger, das ist eine gute Position“, sagt Herrmann in einer seiner letzten Liveschalten und wirkt bereit für das große Finale, das sich bis in die Nacht zum 28. Januar ziehen könnte. Die ersten Boote werden dann praktisch im Stundentakt im französischen Zielhafen Les Sables-d'Olonne erwartet – ein so enges Finish gab es bei der legendären Rundfahrt noch nie. „Ich fixiere mich nicht zu sehr auf die Platzierungsgeschichte“, winkt Herrmann ab: „Trotzdem versuche ich natürlich alles.“

Vendée Globe

Das Einhand-Nonstop-Segelrennen rund um die Welt findet nur alle vier Jahre statt. Seit 1989 haben die Vendée Globe weniger als 100 Menschen geschafft. Die neunte Auflage startete am 8. November in Les Sables-d’Olonne im Département Vendée an der französischen Atlantikküste.

Die Strecke ist gut 45.000 Kilometer lang, sie führt über den Atlantik rund um die Antarktis entlang der Treibeisgrenze. Der Rekord liegt bei 74 Tagen, 3 Stunden, 35 Minuten, 46 Sekunden. 

Nun also kämmt er mit Spitzengeschwindigkeiten von 18 Knoten – etwa 34 Stundenkilometer – durch schäumende Wellenberge: Auf Platz zwei nach dem Franzosen Charlie Dalin, der das Klassement am längsten angeführt hat, dessen Landsmann Louis Burton als nächster Verfolger hinter sich. Es sind die letzten paar hundert Seemeilen auf der Zielgeraden. Für Herrmann spricht, dass er seine Hightech-Yacht im Verlauf des Rennens vor schlimmeren Blessuren bewahrt hat und voll ausfahren kann. Aber die knifflige Schlusspassage mit starkem Seegang liegt auch der Konkurrenz. Es gilt den Windkorridor heraus aus dem flauen Azorenhoch bestmöglich zu deuten, die Route für die stürmische letzte Etappe in der Biskaya perfekt einzufädeln und dafür das passende Segel auszuwählen – eine komplexe Angelegenheit.

„Die unglaublichste Woche aller Vendée-Globe-Finals, sechs oder sieben Boote dicht zusammen“, nickt Herrmann. Im Kampf um einen Podiumsplatz hilft dem Deutschen womöglich auch noch eine Zeitgutschrift aus der dramatischen Rettungsmission für Kevin Escoffier, dessen Boot am 30. November im tosenden Wellengang des Südpolarmeers in eine Welle getaucht, auseinandergebrochen und in Minutenschnelle gesunken ist. Zwölf Stunden treibt Escoffier hilflos auf einer aufblasbaren Rettungsinsel in der aufgewühlten See, etwa 850 Seemeilen oder knapp 1600 Kilometer südwestlich von Kapstadt. Drei Skipper erhalten für ihre Suche nach dem Schiffbrüchigen Wiedergutmachung. Einer von ihnen: Boris Herrmann, die Jury rechnet ihm sechs Stunden Zeitbonus an. Das Schicksal des Franzosen in Seenot, den sein Landsmann Jean Le Cam tatsächlich aus dem Wasser fischen kann, lässt die Konkurrenz für Momente innehalten. Der rasante Höllenritt auf ihren baugleichen Rennyachten der Imoca-Klasse spielt sich ein Stück weit jenseits der Vernunftsgrenze ab und liefert jede Menge Augenblicke, in denen es gefährlich wird. Lebensgefährlich.

Die Naturgewalt der rauen See kann unerbittlich sein. Über Bord zu gehen bedeutet dort normalerweise den sicheren Tod. Am Ende ist der Törn auch eine Frage des Vertrauens in das eigene Material. „Harte Schläge für Schiff und Körper“, so beschreibt es Herrmann: „Jedes Problem ist eine kleine Kerbe in die Zuversicht, in das Vertrauen ins Schiff.“ Ausblenden müsse man solche Sorgen, „so wie den Lärm und die Einsamkeit.“

Der gebürtige Oldenburger bezeichnet sich selbst als „eher ängstlichen Segler“. Kein hohes Risiko in schweren Wetterlagen, diese Strategie hat ihn vor größeren Ausfällen bewahrt. Den Mitstreitern – acht von ihnen müssen aufgeben – reißen die brutalen Kräfte, die auf ihre Boote einwirken, Tragflügel, Ruder und ganze Kielteile vom Rumpf. Herrmann bleibt von derlei Kapitalschäden verschont. Mit der schnellsten Geschwindigkeit unter den ersten Zehn holt er seit Jahresbeginn systematisch auf, passiert in einem Sturmtief das berüchtigte Kap Hoorn – unter Vorsegeln, denn sein Großsegel hat einen Riss und muss erst geflickt werden. Die Reparatur glückt und der deutsche Außenseiter schiebt sich nach vorn in die Spitze der Flotte, braust sensationell als Dritter über den Äquator. „Jetzt ist es an der Zeit, das Potenzial zu nutzen“, gibt er entschlossen zu Protokoll.

Ein Lebenstraum, von dem Hermann nun sagt: „Es war deutlich härter als gedacht.“ Allein die Vorbereitung hat Jahre in Anspruch genommen, dieses ist der zweite Anlauf. Erst fehlte das Geld, dann ein geeignetes Boot. Bis Herrmann mit Pierre Casiraghi, dem jüngsten Sohn von Caroline von Monaco, den passenden Teampartner fand. Der Monegasse brachte Begeisterung und einen Gutteil des Budgets von 15 Millionen Euro mit.

80 Tage lang nur Wellen, Wolken, und vielleicht ein Albatros am Himmel: Weltweit gibt es keinen sportlichen Wettbewerb, bei dem mehr Zeit zwischen Start- und Ziellinie liegt. Für 100 Tage hätte das Proviant gereicht. Boris Herrmann wollte eigentlich nur unfallfrei wieder ankommen. Jetzt hat er das Podium im Blick – und beste Chancen, als Held die Segel zu streichen.

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