Olympia-Abfahrt50.000 Bäume für sechs Entscheidungen geopfert

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Umstritten: Die olympische Abfahrtspiste verläuft durch ein Naturschutzgebiet.

Pyeongchang  – Als Bernhard Russi an seinem 53. Geburtstag im August 2001 erstmals zum Berg Gariwang kam, stapfte er auf Tierpfaden nach oben. Bis vor vier Jahren war hier nichts als Wald. Jetzt steht hineingepfropft in den Eingang eines schmalen Seitentals ein immenses Metallgerüst, auf dem 3600 Menschen Platz nehmen können. Dahinter windet sich ein weißes Band nach oben: Es ist die siebte Olympiastrecke, die der Schweizer Russi geplant oder wie hier in Jeongseon komplett neu gebaut hat. Es war vielleicht die größte Herausforderung in 32 Jahren Pistenbau. „Eine komplizierte Zangengeburt, weil so viele Bewilligungen und Verständnis nötig waren“, sagt der Olympiasieger von 1972 über sein Werk.

Es ist eine historische Abfahrt und eine umstrittene. Wobei das erste aus dem zweiten folgt. Erstmals in der olympischen Geschichte werden Frauen und Männer auf der gleichen Piste ihre Sieger in der Königsdisziplin des Skisports küren. Das ist allerdings keine Folge der Gleichstellungsdebatte. Der Grund für die Zusammenlegung ist, dass auf diese Weise ein bisschen weniger Naturschutzgebiet zerstört werden musste. Dennoch wurden mehr als 50.000 Bäume gefällt, teilweise hunderte Jahre alt. Geopfert für sechs Wettbewerbe. Neben den Abfahrten werden hier auch die Super-G- und Kombinationswettkämpfe ausgetragen.

Bernhard Russi

Bernhard Russi hat schon viele Abfahrtspisten gestaltet.

Abfahrt zu langsam?

Naturschützer demonstrierten, und auch die Skifahrer waren anfangs nicht glücklich – wenn auch aus anderen Gründen. „Langweilig“, fand der Italiener Christof Innerhofer die Premierenfahrt vor zwei Jahren und vor allem: zu langsam. Bei den ersten Trainingsfahrten für die Männerabfahrt am Sonntag (3 Uhr MEZ), bei denen ausgerechnet Innerhofer zusammen mit Kjetil Jansrud (Norwegen), Manuel Osborne (USA) und Beat Feuz (Schweiz) den besten Eindruck machten, hat sich nun aber gezeigt, dass es keine Zufallssieger geben wird. Denn wer einen einzigen Fehler macht, hat schon verloren. 

Die Ski-Weltverband hat für eine Abfahrt strenge Regeln: So muss die Strecke einen Höhenunterschied von mindestens 800 Metern aufweisen. Eine Bedingung, die nicht leicht zu erfüllen ist in einem Land, dessen höchste Erhebung 1950 Meter misst. Der Hallasan liegt zudem auf einer Insel südlich der koreanischen Halbinsel, war also keine Option. Der Gariwangsan ist dann mit 1560 Metern schon der sechsthöchste Gipfel und innerhalb von einer Stunde vom olympischen Zentrum Alpensia zu erreichen.

Keine gesonderte Frauenabfahrt

Anfang des 15. Jahrhunderts kam der Berg, dessen Nordhang nun Menschen in engen Anzügen und bunten Helmen runterrasen, unter den direkten Schutz des Herrschers. Der Zugang wurde streng kontrolliert. Denn hier fand sich der beste Ginseng, Koreas Königspflanze. In der Abgeschiedenheit gedieh ein einmaliger Mischwald, der zum Schutzgebiet erklärt wurde, nachdem er sogar die industrielle Waldwirtschaft der japanischen Besatzer und den Koreakrieg unbeschadet überlebt hatte.

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Die Waldlandschaft neben der Piste ist teils hunderte Jahre alt.

Weil die besonders seltenen Hölzer vor allem ganz oben stehen, wurde der Abfahrtsstart auf den Vorgipfel Ha-bong (1370 Meter) gelegt. Doch auch dort wuchsen uralte Mongolische Eichen, Baumaralien, Mandschurische Tannen und Eiben. Der staatliche Schutz wurde aufgehoben, im September 2014 begann das große Fällen. „Spezielle rare Exemplare hat man ausgegraben und verpflanzt“, versicherte Russi der Schweizer Zeitung Blick. Aber nur ein Bruchteil von den 5315 über acht Meter hohen Bäumen, die eigentlich umgepflanzt werden sollten. Die Naturschützer erreichten neben der Startverlegung immerhin, dass auf den Bau einer gesonderten Frauenabfahrt verzichtet wurde. So mussten 30 Prozent weniger Bäume gefällt werden.

Keine halsbrecherische Abfahrt

Mehr als 30-mal ist Russi seit 2001 nach Jeongseon gereist. Den Bergwald in eine olympiawürdige Abfahrt zu verwandeln, war nicht nur aufgrund der Diskussionen mit Naturschützern eine große Herausforderung. Die Geländebeschaffenheit verhinderte die typischen Merkmale einer Abfahrt: lange Gleitstücke sowie steile Passagen, die Überwindung kosten. Von „Genuss-Skifahren" auf einem „Hügel“ sprach der Österreicher Romed Baumann bei dem Testrennen vor zwei Jahren. „Die Sprünge sind schön, aber die Abfahrt ist ein bisserl kurz. Man ist nicht richtig müde, wenn man im Ziel ist“, sagte nun sein Landsmann Matthias Mayer, Olympiasieger von Sotschi, nach dem Training. Schon nach 1:40 Minuten sind die Besten unten auf 545 Höhenmetern angekommen, 2,8 Kilometer ist die Piste lang.

Weil es anders als etwa auf der Streif in Kitzbühel oder der Kandahar in Garmisch-Partenkirchen keine Stellen gibt, an denen die Fahrer mit Brutalität und Mut viel Zeit herausholen können, ist die Zahl der Medaillenkandidaten groß und das richtig gewählte Material noch wichtiger als sonst. Runterkommen ist vergleichsweise einfach, Schnellsein hingegen eine Herausforderung. Gefühlvolle Techniker sind im Vorteil, auf die Linienwahl kommt es an. Was die Sache für die Athleten so kompliziert macht: Wer einmal Tempo verliert, kann dies nirgends wieder aufnehmen.

Alle kommen am „Zauberbaum“ vorbei

Tücken, die Fehler und somit den Geschwindigkeitsverlust provozieren, hat Russi zuhauf kreiert. Auf den ersten, mit hoher Geschwindigkeit angefahrenen Sprung folgen große Wellen. „Rodeomäßig“ gehe es daher auf den zweiten weiten Satz zu, „es wird sich viel in der Luft abspielen“, sagte Russi nicht ohne Freude, als er 2016 einem Blick-Reporter die Strecke präsentierte. Dazu kommen Kurven mit unterschiedlichen Radien und viele Traversen. Dafür hatten die Koreaner, die die Bauarbeiten durchführten anfangs übrigens wenig Verständnis. Eine schiefe Piste machte für sie keinen Sinn und so waren sie schon dabei, die natürliche Schräge unterhalb des Starts abzutragen. Russi schritt rechtzeitig ein, um die „Autobahn“ zu verhindern. Deshalb heben die Sportler mehrfach in Schieflage ab. Die Deutschen Medaillenkandidaten Thomas Dreßen und Andreas Sander verfuhren sich prompt bei den Übungseinheiten und ließen Tore aus.

Die laut Russi „verrückteste Stelle“ findet sich im unteren Teil. Dort zweigen die Männer ins sogenannte Waschbär-Tal ab. „Im Sommer haben alle wegen des Bachs gesagt, dass das unfahrbar ist“, erzählte Russi. Es ist die einzige Passage, an der der Frauenkurs abweicht. An dem „Zauberbaum“ kommen jedoch alle vorbei. Er liegt oberhalb und veranlasste den Baumeister zu einer Planänderung. „Die theoretische Linie auf dem Plan ist genau drüber gegangen“, so Russi. Doch besagt eine Legende, dass Frauen, die trotz Kindeswunsch nicht schwanger wurden, zu dem Baum aufstiegen, und ihre Bitte um Fruchtbarkeit erfüllt wurde.

34 Familien mussten ihre Häuser räumen

Dass dieser Ort letztlich verschont blieb, macht aus der 160 Millionen Euro teuren Kettensägengeschichte aber kein Wohlfühlprojekt. Welche Verwendung es für die zwei Hotels unterhalb der Strecke gibt, in denen die Abfahrtsteams untergebracht sind, ist offen. 34 Familien mussten für die Neubauten weichen, sie bekamen Geld, um an anderer Stelle ansässig zu werden. Von den Plänen, die zwei Schneisen (die Rennabfahrt und eine Nebenpiste) im Nachgang der Spiele aufzuforsten, hat man aufgrund der Kosten (40 Millionen Euro) offenbar Abstand genommen. Für Investoren hat das Gelände – das Ausbleiben weitere Zerstörungen vorausgesetzt – keinen Wert.

Denn für Touristen ist das Mini-Skigebiet aufgrund der mangelnden Vielfalt uninteressant. Als Weltcupstrecke kommt die Piste wegen ihres Profils auch nicht infrage, zumal eine Asientour derzeit nicht in den Wettkampfkalender passt. Gewonnen hat aber auf jeden Fall mal wieder ein Unternehmer. Der österreichische Liftbauer Doppelmayr hat hier drei Anlagen hingestellt.

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